20. Der Riesengarten.

Es war einmal ein Kuhhirtenjunge, der wollte gern Jäger werden. Da gab ihm sein Vater sein Vermögen, dazu noch ein Brot und einen Käse, damit ging er fort. Nachdem er eine Weile gegangen war, begegnete ihm eine alte Frau. Diese fragte ihn, wohin er wolle, und bat ihn zugleich um Brot und Käse. Erst antwortete er, er habe nichts; als sie aber sagte, sie wolle es ihm vergelten, gab er ihr ein Stück von dem Brote und etwas von dem [294] Käse. Dafür schenkte ihm die Alte, welche eine Zauberin war, einen kleinen Stock und sagte dabei: »nach wem du damit winkest, der ist augenblicklich todt.« Der Junge ging nun weiter und kam zu einem Schlosse; er ging hinein und fragte, ob sie keinen Jäger nöthig hätten? Der König, welcher in dem Schlosse wohnte, sagte nein, aber einen Kuhjungen könne er gebrauchen. Erst ging der Junge weg, dann aber besann er sich und dachte: »du hast so lange die Kühe gehütet, so kannst du sie auch noch eine Weile hüten,« kehrte also wieder um und ward Kuhjunge. Als er am anderen Tage die Kühe ausgetrieben hatte, – es waren aber so viele, daß er sie gar nicht zählen konnte, – wollte er einmal versuchen, ob das Stöckchen, welches ihm die Alte gegeben hatte, wirklich das tödte, wornach er damit winke. Er winkte also damit nach einer alten Kuh, und auf der Stelle war sie todt. Als er am zweiten Tage wieder mit seinen Kühen auszog, warnte ihn der König und sagte, es wäre da ein großer Garten, und darin ein schönes Haus, dahin solle er ja nicht gehn, denn es wohnten darin zwei Riesen, die ihn sogleich tödten würden, wenn sie ihn erblickten. Der Junge versprach auch das nicht zu thun, trieb aber gleichwohl seine Kühe nach dem Garten, in dem die Riesen wohnten, stieg dann über die Hecke und setzte sich gerade vor des alten Riesen Thür in einen Kirschbaum. Nachdem er eine Weile da gesessen hatte, kam der Riese heraus und sprach: »warte, du Erdwürmchen, suche dir nur einen Baum aus, an dem du hängen willst.« Doch der Junge winkte nur mit seinem Stöckchen, und der Riese war todt. Dann schnitt er dem Riesen die Zunge aus, wickelte dieselbe in sein Taschentuch, trug den Leichnam in den Keller und ging wieder zu seinen Kühen. Als er am Abend mit seiner Heerde nach Hause kam, war er überaus fröhlich und pfiff und sang in einem fort, so daß der König sagte, einen so fröhlichen Jungen habe er noch nie gehabt. Am folgenden Tage trieb er seine Heerde wieder in die Nähe des Riesengartens, stieg abermals über die Hecke und setzte sich vor des jungen Riesen Thür in einen Kirschbaum. Der junge Riese war noch viel wilder und zorniger als der alte; auch er sagte: »warte, du Erdwürmchen, suche dir nur einen Baum aus, an dem du hängen willst.« Der Junge nahm ruhig sein Stöckchen, winkte damit nach dem Riesen, und dieser war todt. Dann schnitt er ihm auch die Zunge aus, band sie ein, und warf den Leichnam zu dem anderen [295] in den Keller. Ein jeder der Riesen besaß ein treffliches Pferd und eine goldene Rüstung. Nachdem er erst noch auf den Pferden eine Weile umher geritten war, kehrte er nach Hause zurück. Am anderen Morgen sah er auf dem Schlosse eine schwarze Fahne aufgesteckt; er erkundigte sich, was das zu bedeuten habe, und erfuhr nun, es sei eine Trauerfahne; es müsse nemlich alle Jahre an einem bestimmten Tage den beiden Riesen eine Prinzessin geopfert werden, und heute sei nun der Tag, wo das wieder geschehe. Der Junge sagte nichts davon, daß er die Riesen getödtet hatte, sondern schwieg ganz still. Die Prinzessin ward darauf mit Musik in das Riesenhaus gebracht und daselbst in einem Zimmer allein zurückgelassen. Mittlerweile war auch der Junge in das Haus gegangen und hatte die Rüstung des jungen Riesen angelegt; in dieser ging er in das Zimmer, worin die Prinzessin mit entblößtem Halse auf einem schwarzen Stuhle saß, fest erwartend, daß sie jetzt sterben müsse. Er verkündigte ihr, daß sie erlöst sei und in das Schloß zurückkehren könne: doch sie blieb ruhig sitzen. Erst als er zum zweiten Male kam und sie aufforderte zu ihrem Vater zurück zu kehren, ging sie weg. In der Eile vergaß sie ihr Taschentuch, worin ihr Name stand; dieses nahm dann der Junge zu sich und steckte es ein. Als er nach Hause zurück kam, war eine Freudenfahne ausgesteckt und überall im Schlosse großer Jubel. Der König ließ darauf bekannt machen, wer ihm die Zungen der Riesen brächte, deren Körper man im Keller gefunden hatte, der solle die Prinzessin zur Gemahlin haben. Doch der Junge meldete sich nicht, sondern zog wieder mit seinen Kühen aus und ritt nach seiner Weise auf den Pferden der Riesen herum. Dabei hatte er sich nun das eine Bein wund geschabt, er band deshalb das Taschentuch der Prinzessin um die wunde Stelle. Statt seiner meldete sich ein anderer beim Könige und behauptete, er habe die beiden Riesen getödtet, und wies auch die Zungen vor, die er ihnen ausgeschnitten haben wollte. Diese paßten aber nicht recht, weil es Hundezungen waren. Trotzdem sollte er die Prinzessin zur Gemahlin erhalten, und es war schon der Tag gekommen, wo die Hochzeit gefeiert werden sollte. An diesem Tage war der Junge müde nach Hause gekommen und hatte sich deshalb in den Klee gelegt, um ein wenig zu schlafen. Wie er so schlafend da lag, sah eine Magd das Tuch mit dem Namen der Prinzessin an seinem Beine; sogleich [296] lief sie hin zum Könige und meldete das. Der König schickte die Magd wieder ab und ließ durch sie dem Jungen sagen: er solle auf der Stelle zu ihm kommen. Der Junge wollte das zwar nicht gern und versuchte sich damit zu entschuldigen, daß er Kuhmist an den Füßen habe, doch das half ihm nichts; die Magd gab ihm ihre Pantoffeln, und so muste er mit zum Könige. Diesem erzählte er nun, wie er es mit den beiden Riesen gemacht hätte, und holte zum Beweis die beiden ausgeschnittenen Zungen hervor, die auch genau paßten. Der andere, welcher sich für den Besieger der Riesen ausgegeben hatte, ward darauf in ein tiefes Gefängnis geworfen, woraus er nie wieder ans Tageslicht kam; der Kuhjunge aber erhielt die Prinzessin zur Gemahlin und ward später auch König.


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TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. 20. Der Riesengarten. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-BBE0-7