116. Die Wunderblume.

1.

Ein Schäfer, der an den Gleichen hütete, fand einst einen Büschel weißer Blumen von großer Schönheit und steckte sie an seinen Hut. Alsbald erblickte er eine Oeffnung, die in den Berg hinein führte. In der Höhle aber war eine weiße Jungfrau, die ihm winkte hereinzukommen. Er folgte ihrem Winke [87] und ging hinein. Drinnen standen große Fäßer voll Geld, und dabei lag ein großer Hund. Die Jungfrau winkte ihm wieder, er möchte sich von dem Gelde nehmen. Er that das auch und legte dabei seinen Hut auf eins der Fässer. Als er hinausgehn wollte, rief ihm die Jungfrau zu, er möge das Beste nicht vergessen; doch er verstand dieß nicht, dachte dabei an das Geld und ließ die Blume liegen. So wie er aus der Höhle heraus war, verschloß sich der Berg und er konnte die Oeffnung niemals wieder finden.

2.

An der Wahlsburg, einem Berge bei Vernewahlshausen, auf dessen Gipfel sich noch geringe Reste einer alten Burg befinden, geht eine weiße Jungfrau umher. Einst geht ein Mann aus dem Dorfe vorbei, da hört er eine Stimme, die ihn ruft. Er folgt der Stimme nach und findet bald eine wunderschöne Blume, die er abpflückt. Mit dieser geht er weiter und kommt vor eine Thür im Berge, die sich vor ihm aufthut; er tritt ein und sieht hier viel Geld und Kostbarkeiten aller Art in unermeßlicher Fülle liegen. Hastig legt er die Blume aus der Hand und steckt sich alle Taschen voll; da hört er wieder eine Stimme rufen: vergiß das Beste nicht! Nun steckt er noch mehr Kostbarkeiten ein. Abermals ertönt die Stimme: vergiß das Beste nicht! Da er nun nach seiner Meinung das Beste genommen hatte, so geht er hinaus, läßt aber die Blume liegen. Indem er eben hinaustritt, schlägt die Thür hinter ihm zu und ihm beide Hacken ab.

3.

Ein Vater geht mit seinem Sohne von Uslar nach dem Ziegenbusche »über das Holz.« Da ist am Wege eine weiße Jungfrau mit einem Bunde Schlüssel, die winkt. Der Sohn sieht sie zuerst und macht seinen Vater darauf aufmerksam. Die Jungfrau winkt mit beiden Händen, dann schließt sie einen nahen Felsen auf und winkt noch immer fort. Nun folgen die beiden ihr in den Felsen und gehn darin eine Strecke fort, bis sie zu einer Stelle kommen, wo zwei Tische voll Geld standen, ein Tisch voll Silbergeld, der andere voll Gold. Der alte Mann hat das Silbergeld nehmen müssen, der junge aber hat das Gold bekommen. Dann gehn sie wieder hinaus, die Jungfrau geht voran, die beiden Männer gehn hinter ihr her. Wie sie wieder vor die Felswand kommen, steht da eine wunderschöne Blume in einem Topfe. Der alte Mann will die Blume nicht mitnehmen, da fängt aber die [88] Jungfrau an zu sprechen und ruft: »vergeßt doch das Beste nicht, nehmt doch die Blume mit!« Die Leute im Dorfe wusten erst gar nicht, woher die beiden so reich geworden waren; als diese es erzählt hatten, da gingen mehrere hin zu der Stelle um die Jungfrau zu sehen, aber keiner hat etwas erblickt.

4.

Der Förster aus Wenzen hatte sich im Hils ein Borkenhaus gemacht, worin er oft des Nachts schlief. Einst ist er wieder darin, da erscheint ihm im Frühjahr Nachts zwischen 11 und 12 Uhr eine weiße Jungfrau und fordert ihn auf nach drei Wochen wieder hierher zu kommen, dann wolle sie ihn glücklich machen. Doch dürfe er das Beste nicht vergessen, er müsse nemlich drei »Kreuzblätter« (Blätter der eppeltêre, des Maßholders, Ahorns) in den Schuh legen. Nach drei Wochen ging der Förster auch wieder dahin, hatte aber die drei Blätter vergessen, und so fand er nichts.


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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. 116. Die Wunderblume. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-BDDE-C