117. Die weiße Jungfrau bei und in Einbeck.

1.

In dem Heiligengeist-Busche bei Einbeck hat vor Zeiten eine heilige Jungfrau gewohnt, der dieses Gehölz gehörte. Bei ihrem Tode soll sie dasselbe dem Heiligengeist-Hospitale zu Einbeck geschenkt haben. Alle sieben Jahre läßt sie sich zu drei verschiedenen Malen und zwar Abends, wenn die Sonne untergeht, daselbst sehen. Sie hat ein schneeweißes Kleid an und trägt an der Seite ein Schlüsselbund. Zu gleicher Zeit sonnt sie dort Geld, welches ihr gehört. Sobald sie einen Menschen erblickt, hebt sie das Schlüsselbund hoch empor, winkt damit und ruft ihn herbei. Dieser muß sie alsdann dreimal um das Gehölz tragen. Das erste Mal ist sie ganz leicht und ohne alle Mühe zu tragen; das zweite Mal ist sie schon schwerer, doch kann man sie noch tragen; das dritte Mal aber ist sie so schwer, daß dem Tragenden bald der Athem stockt und er mit ihr nicht weiter kann. Wer sie nicht herumtragen kann, der muß sterben; wenn aber einer sie dreimal herumtrüge, so würde dieser sie damit erlösen und von ihr reich beschenkt werden. Da nun niemand sie dreimal herumzutragen vermag, so kann sie auch nicht erlöst werden. Deshalb erhebt sie auch jedesmal, wenn die Zeit [89] abgelaufen ist, wo sie erlöst werden kann, ein furchtbares Jammergeschrei.

2.

Alle sieben Jahre läßt sich am Johannistage Mittags zwischen 11 und 12 Uhr in dem Heiligengeist-Busche die weiße Jungfrau sehen. Sie geht bei brennender Sonnenhitze über das Feld hin nach der Kapelle bei dem Armenhause, wo sie verschwindet. Wer Mittags zwischen 11 und 12 Uhr dahin kommt, dem winkt sie; in der Hand hat sie drei Blumen: eine Lilie, eine Rose, ein Vergißmeinnicht, an der Seite ein Bund Schlüssel. Leistet man dem Wink Folge und geht hin zu ihr, so muß man sich eine Blume wählen. Die eine heißt Blume des Todes, die andere Blume des Schatzes, die dritte Blume der himmlischen Güter. Wer die Blume des Todes wählt, muß gleich sterben; wer die Blume des Schatzes wählt, erhält viele Güter; wer die Blume der himmlischen Güter wählt, erhält die ewige Seligkeit. Wer sie erlösen will, muß sie dann dreimal um den Heiligengeist-Busch herumtragen. Hat er dieses glücklich vollbracht, so entsteht ein lauter Knall und ein großes, schönes Schloß steht urplötzlich da. Vor der Schloßthür aber steht ein großer Topf und darin liegt eine große Schlange; diese muß er dreimal auf den Schwanz schlagen, dann wird aus der Schlange lauter Geld.

Einst ging ein Mann von der Wolperstraße Namens Bense im Mittage dahin und erblickte sie. Sie winkte ihm und da er ein furchtloser und starker Mann war, so ging er auch hin zu ihr und wollte sie erlösen. Nun trug er sie um den Busch herum, aber beim dritten Male ging ihm die Kraft aus und er ließ sie fallen. Da fing sie an zu weinen und zu schreien: nun müsse sie wieder tausend Jahre »wallen«, ehe wieder einer geboren werde, der sie erlösen könne, und verschwand.

3.

Nach einer andern Ueberlieferung ließen sich früher drei weiße Jungfrauen in dem Busche sehen. Die eine trug ein Bund Schlüssel, die zweite einen Korb, die dritte einen Fächer (fechtle). Zwei von ihnen sollen erlöst sein (eine durch einen Schäfer); nun ist noch die dritte übrig, die nicht erlöst werden kann.

4.

Vor der Gitterthür der Neustädter Kirche in Einbeck geht eine weiße Jungfrau, welche zwölf Schlüssel in der Hand hält. Einst sah ein Korporal, welcher Abends nach Hause gehn wollte, wie sie in der Gitterthür der Neustädter Kirche verschwand.

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5.

Auf dem Häger Thurm in Einbeck geht Nachts eine weiße Frau herum, die um den Tod ihres Mannes klagt, der als Officier hier gefallen ist. – Auch auf den Wällen von Einbeck ist sonst eine weiße Frau gegangen.

6.

Eine alte Frau sitzt Abends mit ihrem Manne bei sehr großer Dunkelheit vor der Hausthür. Auf einmal wird es an einer Stelle sehr hell und etwa zehn Schritt von sich sehen die beiden eine schneeweiße Jungfrau stehen. Diese fängt an zu klagen, daß sie schon hundert Jahre verzaubert säße und niemand sie erlösen wolle. Die alte Frau wird bange und sagt zu ihrem Manne, er möchte doch hineingehen und die Thür verschließen, doch er meint, »es habe nichts zu sagen.« Die Frau flüchtet schnell ins Haus hinein, fällt aber, als sie in die Stubenthür tritt, todt nieder. Der Mann, von Natur jähzornig und ein arger Säufer, geht jetzt auf die weiße Jungfrau zu, um den Tod seiner Frau an ihr zu rächen. Da fängt es plötzlich an furchtbar zu donnern und zu blitzen, zugleich ist alles, der helle Schein und die Jungfrau, verschwunden. Ein Birnbaum aber, der da stand, ist in tausend Stücke zersplittert. Dieß ist in Einbeck auf dem Münster »an der kleinen bêke« geschehen. An der Stelle aber, wo es geschehen ist, sind drei Birnbäume in einander gewachsen. Der Mann hat, so lange er noch lebte, Abends vor dem Schlafengehen stets ein lautes Klagen gehört und ist bald darauf ebenfalls gestorben.


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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. 117. Die weiße Jungfrau bei und in Einbeck. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-BEAF-E