96. Der Nachtrabe.

1.

Der Nachtrabe ist ein großer und starker Vogel, der nur bei Nacht fliegt. Mann nennt ihn auch den eisernen Vogel, [68] weil er eiserne (nach andern eherne) Flügel hat, mit welchen er diejenigen, die ihm nachrufen, zu Tode schlägt. Seine Stimme ist die eines Kolkraben, aber viel stärker; er ruft: hâr, hâr oder wârk, wârk (nach andern twârk oder kârk), und dieser Ruf bedeutet Krieg. Er fliegt mit großer Schnelligkeit; hat man ihn eben in der Nähe gehört, so hört man ihn in einem Augenblicke darauf vielleicht schon eine Stunde von da. Ein Bauer, der ihn bei Andershausen gehört hatte, hörte ihn im nächsten Augenblicke schon bei Kohnsen und gleich nachher bei Mark-Oldendorf rufen.

2.

Man glaubt der Nachtrabe sei früher ein Fuhrmann gewesen, der in diesen Vogel verwandelt ward, weil er bei seinen Lebzeiten Menschen und Vieh auf das grausamste mishandelte. Vor seinem Tode soll er gesagt haben, er wolle, daß er für seinen Theil am Himmelreiche immer fahren könne. Daher heißt der Nachtrabe auch der Fuhrmann; in Sievershausen wird erKarenförer (Kärrner) genannt. Alle hundert Jahre kommt er einmal »herum«.

3.

Einst ist ein Schäfer Nachts draußen bei seiner Heerde, da kommt der Rabe unter lautem Krächzen daher geflogen. Der Schäfer schreit ihm nach, indem er das Gekrächze nachahmt. Ein anderer Mensch, der zufällig dabei ist, sagt zu ihm, dafür werde es ihm schlimm ergehn. Wirklich sehen sie auch, wie der Rabe auf sie zugeflogen kommt. Der Schäfer nimmt nun schnell neun Hürden und wirft sie auf sich. Der Nachtrabe kommt und spricht zum Schäfer, das sei sein Glück, daß er gerade neun Hürden auf sich geworfen habe; hätte er zehn genommen, so hätte er sterben müssen.

Schlimmer erging es einem andern Schäfer, der gleichfalls dem Nachtraben spottend nachrief. Dieser kam alsbald herbei geflogen, schlug mit seinen eisernen Fittichen die Schäferkarre in tausend Stücke und den Schäfer todt.

4.

Einst hüteten Jungen aus Kuventhal die Pferde, als der Nachtrabe daher geflogen kam und rief. »Er gab zu verstehn, daß er Lebensmittel bei sich habe.« Da riefen die Jungen half part, worauf er ihnen einen Pferdeschinken ins Feuer warf.

5.

Auch Knechte aus Merxhausen, welche Nachts die Pferde hüteten, haben einst dem Nachtraben spottendhâr, hâr nachgerufen. Da ward ein Pferdeschinken aus der Luft herab ins Feuer [69] geworfen, daß ihnen die Funken um die Ohren sprühten, und eine Stimme sprach dazu: »Dieses Mal soll es euch noch so hin gehn; thut ihr es aber wieder, so soll es euch schlecht bekommen.«


License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. 96. Der Nachtrabe. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-BFCB-4