10. Die Vogelsburg und das Dorf Vogelbeck.

1.

Auf der Vogelsburg, einem bewaldeten Berge bei dem Dorfe Vogelbeck, soll vor alten Zeiten eine Burg gestanden haben, worin ein Fürst wohnte. Bisweilen wird ein Mann Namens Vogel als der Bewohner derselben genannt, gewöhnlich aber Heinrich der Vogelsteller, der hier auch seinen Vogelheerd gehabt haben soll. Die Spuren von einer dreifachen Umwallung sind noch jetzt sichtbar, und eine Stelle wird als der Küchengarten bezeichnet. Zwischen dem Braunschweigischen Dorfe Ahlshausen und dem Hannöverschen Dorfe Hohnstedt zieht sich ein Weg hin, derKârweg genannt, auf welchem Heinrich der Vogelsteller auf einem zweiräderigen Karren nach der Vogelsburg gefahren sein soll. Eben so wird auch eine erhabene Fläche in der Hohnstedter Feldmarkt der Königsstuhl genannt. Von der Vogelsburg kommt ein kleiner Bach herunter; an diesem bauten sich Menschen an und nannten das so entstandene Dorf, weil es an diesem Bache lag, Vogelbeck. Beismanns Hof ist von den etwa 50 Häusern des Dorfes das erste gewesen, welches hier gebaut wurde.

2.

Als Kaiser Heinrich einst auf der Vogelsburg mit Vogelstellen eifrig beschäftigt war, wurde er abgerufen. Da sagte er: nur noch einen Finken! (will ich fangen) und blieb so lange, bis er den einen Finken auch gefangen hatte. Davon hat er den Beinamen der Finkler erhalten. In dem von der Vogelsburg [9] herabfließenden Bache sind des Kaisers Vögel getränkt; daher ist der Bach und das Dorf Vogelbeck (Vogel-bêke) genannt worden.

3.

Der alte Kuhhirt Wessel aus Vogelbeck hütete eines Tages seine Heerde am Fuße der Vogelsburg. Als es Mittag wurde, wollte er Ruhe halten und streckte sich der Länge nach auf dem Boden hin; unter den Kopf legte er sich seinen dreieckigen Hut. Seine Kühe hatten sich rings um ihn herum gelagert. Als er so ein Weilchen gelegen hatte, kam ein kleines weißes Männchen von der Vogelsburg herab, gerade auf ihn zu, und legte etwas wie ein Blatt Papier neben ihm hin. Der Hirt erschrak; indem er sich aber aufrichtete, war das Männchen schon wieder verschwunden. Ohne es genaue zu besehen, steckte er das Papier, welches wohl einen Finger lang war, in seine Tasche. Als er Abends nach Hause gekommen war, wollte er das Papier aus der Tasche nehmen und genauer besehen, statt des Papieres zog er aber eine Stange Gold heraus.

4.

Vier Musikanten gehn von Ahlshausen über die Vogelsburg nach Einbeck, um daselbst zu musiciren. Als sie auf der Vogelsburg sind, macht einer von ihnen den Vorschlag dem Kaiser Heinrich dem Vogelsteller zu Ehren ein Stück zu spielen. Sie thun dieß. Als sie fertig sind, kommt mit einem Male eine weiße Jungfrau, hält ihnen einen Teller hin, worauf weiße Knochen liegen und fordert jeden auf einen davon zu nehmen. Sie sind sehr bestürzt, so daß sie kein Wort sprechen, aber ein jeder nimmt einen der Knochen; weil sie jedoch die Knochen für völlig werthlos halten, so lassen drei von ihnen ihren Knochen still am Leibe herunter fallen, und nur einer steckt ihn in die Tasche. Als sie eine Strecke weit gegangen sind, will dieser seinen Knochen ordentlich besehen, greift in die Tasche und holt statt desselben eine Stange Gold hervor. Nun kehren die anderen zu der Stelle zurück, wo sie ihre Knochen hatten fallen lassen, finden aber nichts.

5.

Auf der Vogelsburg hören spät am Abend mehrere Männer aus Vogelbeck etwas auf einem Baume wie ein Kind schreien, doch sehen sie nichts. Die Stimme war erst fein, wurde dann aber immer stärker. So oft sie darauf zu gingen, wich es jedesmal vor ihnen zurück, und das Geschrei ließ sich wieder von einem anderen Baume her vernehmen. Es gelang ihnen die Stelle, »wo es saß,« zu umschließen; wollten sie aber dann gerade darauf losgehen, [10] so wich es wieder zurück. Sie standen nun von ihren fruchtlosen Bemühungen ab und wollten nach dem Dorfe zurück gehn; aber sie waren jetzt unvermögend sich von der Vogelsburg herabzufinden, und erst am Morgen zwischen zwei und drei Uhr gelang es ihnen endlich wieder herabzukommen.


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TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. 10. Die Vogelsburg und das Dorf Vogelbeck. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-C02F-E