[7] Arthur Schnitzler
Welch eine Melodie

Es hört sich an wie ein Märchen ... Ein Knabe saß beim Fenster eines Landhauses und blickte nur ab und zu in den Wald hinunter, der gleich an die Villa grenzte und so still dalag, als regte sich kein Zweig in seinem ganzen Bereiche. Es war ein schläfriger Sommernachmittag, und die tiefblaue Luft lag schwer und heiß über der Erde. – Der Knabe hatte vor sich auf dem Fensterbrett ein Notenblatt liegen, auf welches er musikalische Zeichen, wie sie ihm eben einfielen, planlos eintrug. Ganz mechanisch, während er an alles mögliche dachte, zeichnete er vielerlei Notenköpfe auf das Papier und versah sie in einer Art von kindischem Eifer mit Taktzeichen, Kreuzen, bis eine ganze Zeile ausgefüllt war, worauf er seine Spielerei mit befriedigtem Lächeln überblickte. Er hatte keine Ahnung, was nun eigentlich auf dem Blatte stand. Die Schwüle, welche zum offenen Fenster hereingezogen kam, machte ihn müde, er legte den Bleistift aus der Hand und schaute nur so vor sich hin, mit offenen Augen träumend. Es kam ein leiser, ganz leiser Wind ... der wehte das Notenblatt hinaus, und ohne Bedauern sah ihm der Knabe nach ... wie es sich zuerst in den Ästen verfing und dann langsam auf den schmalen Waldweg herunterglitt, an dessen Saume es liegen blieb. Der Junge kümmerte sich nicht weiter darum und ging nach kurzer Zeit auf sein Zimmer, setzte sich an Klavier und übte Skalen. –

Ein junger Mensch, dessen Äußeres auch einem flüchtigen Beobachter den angehenden Künstler oder mindestens den Kunstenthusiasten zu erkennen gab, schritt bald darauf, irgendein Lied vor sich hinträllernd, über jenen Waldweg der Hauptstraße zu, als sein Auge auf dem Blatt Papier haften blieb, welches der Wind hergeweht hatte und das nun seine beschriebene Seite dem Jüngling zukehrte. Dieser hob es behend vom Boden auf und betrachtete es neugierig. »Ei, sieh doch!« scherzte er vor sich hin – »also nicht einmal in diesem stadtfernen Wäldchen bin ich der einzige Komponist! – Nun, rechte Kratzefüße das, die mein unbekannter Kollege im Schatten dieser Bäume hergemalt!« Er [7] versuchte nun sich zurechtzufinden und summte allmählich, stückweise sozusagen, die Melodie vor sich hin, die er langsam aus dem Exerzitienblättchen enträtselte. »Nicht übel, wahrhaftig! – Ja, zweifellos – in diesen Noten da steckt etwas! Wer so etwas wegwerfen kann, der muß wohl den Kopf noch voll von ganz andern Ideen haben – bei Gott, ich ließe so etwas nicht im Walde liegen, wenn es mir überhaupt einfiele.« – Dabei begann er nochmals, nun im Zusammenhang, die Melodie, welche der Knabe so ahnungslos auf das Blatt gezeichnet, vor sich hinzusingen – schüttelte den Kopf und sagte: »Innig, sehr innig, etwas für die Weiber, etwas für Ännchen!« –

Und er eilte zu seinem Mädchen, eilte zu Ännchen. Das war nun ein ganz reizendes, süßes Kind und ihrer Mutter, einer armen Witwe, einzige Freude und Seligkeit. Die helle Unschuld sprach aus den Zügen ihres Antlitzes, und der junge Künstler liebte sie mit einem Feuer, mit einer Leidenschaftlichkeit, deren eigentliches tieferes Wesen dem keuschen Sinn des jungen Mädchens noch gar nicht aufgegangen war. Nun trat er zu ihr ins Zimmer. Sie war allein, die Mutter bei einer Verwandten. Der Geliebte setzte sich nach einer flüchtigen, beinahe hastigen Begrüßung zum Flügel und hob an auf den Tasten zu phantasieren. Sie setzte sich zu ihm, blickte ihm still mit holder, ruhiger Freundlichkeit ins Auge und lauschte seinem Spiel. Nach einigen Tönen und Akkorden aber änderte sich der Ausdruck ihres Gesichtes. Sie hörte gespannter und aufmerksamer zu. Auf ihren blassen Wangen stieg eine leise Röte auf – ihr Auge, eben noch klar und ernst, erschien in einem sonderbaren feuchten Glanz. – Eine heftige Bewegung gab sich in ihren Mienen kund. Sie sah aus, als wäre sie mächtig ergriffen, als hätte sie etwas unendlich tief berührt. »Welch eine Melodie!« flüsterte sie. Der junge Künstler improvisierte weiter, immer über jenes Thema, welches ein lächerlicher Zufall ihm im Walde zugetragen. Seine Finger zauberten eine prächtige Fülle von Variationen aus den Tasten hervor, und aus allen tönte jene eine wundersame Melodie, die immer herzlicher, immer schöner erklang, je öfter sie gebracht wurde! – Welch eine Melodie! Nur ein Genius hat solche Gedanken! Ein Genius nur kann durch ein kurzes einfaches Motiv so außerordentlich wirken, daß der Zuhörer wie weltentrückt in der höchsten, unvergleichlichsten Entzückung schwelgt ...

Welch eine Melodie! Und als sie jetzt, zum letzten Male angeschlagen, allmählich verhallte, als der junge Künstler geendet – [8] wie zitterte sie nach, als schlürfe die Luft den Wohllaut ein und wollte sich daran berauschen. –

Und das Mädchen, hingerissen, wie in einen himmlischen Traum verloren, saß unbeweglich da. Nur wenige Sekunden freilich, dann heftete sie die großen, schimmernden Augen auf ihn, und ihr Blick hing an ihm mit dem Ausdruck einer leidenschaftlichen, rückhaltlosen Bewunderung. Er wollte eben die Lippen zur Rede auftun – als sie ihm schon zu Füßen gesunken war, des Erstaunten Hände an ihren Mund führte und mit heißen Küssen bedeckte. Er beugte sich sprachlos zu ihr herab, und nun umschlang sie ihn seufzend und lachend, mit einer Wildheit, wie er sie nie von ihr gesehen, nie erwartet. Sie lag in seinen Armen, und ihr Atem umflutete den Geliebten mit betäubender Süßigkeit ...

Welch eine Melodie! – Sie war das Präludium unendlicher Seligkeit für ihn und für sie ...

Oh, nicht etwa, daß er sie geheiratet hätte – so trivial schließt ein großer Künstler seine interessantesten Abenteuer nicht ab! Aber er blieb ihr lange Zeit treu – ein paar Monate, und während dieser Zeit schrieb er ein Klavierstück und wurde berühmt.

Wahrhaftig, das klingt wie ein Märchen!

Es war ein unglaubliches Motiv darin, wie die Enthusiasten sagten. »Die Ausführung ist talentvoll, die Idee aber ist die eines Genies«, sagte ein Kritiker. Die musikalische Welt war voll von diesem Stück und die Frauen besonders. Das hat kein Liebender komponiert – die Liebe selbst hat das geschaffen. Ja, es war auch ein Thema – für die Weiber besonders! – Armes Ännchen, du hast's an dir erfahren!

Selten war man auf etwas so gespannt wie auf das nächste größere Werk des Komponisten. Es ließ lange auf sich warten, während er, der als der glückliche Erfinder jener schönen musikalischen Idee angesehen wurde, in allen Gesellschaften gefeiert, in manchen Kreisen in den Himmel erhoben wurde und in den Armen der schönsten und elegantesten Damen der Stadt sein Ännchen bald vergaß ... Denn die Frauen sind Künstlern gegenüber außerordentlich nobel, sie lieben es, sich für die gebotenen Genüsse zu revanchieren.

Sein Klavierstück wurde populär – man arrangierte es für Streichorchester, und das Motiv machte die Runde durch alle Musiksäle der Welt ... Aber wann wird er wieder etwas schreiben? Man wartete, wartete vergebens – und begann enttäuscht [9] zu sein. – Man kannte bald nur mehr jenes herrliche Motiv, und es war daran, daß der Name des Komponisten langsam ins Vergessen kam.

Da, nach einem Jahre vielleicht, lief die Nachricht in der Stadt herum, der kürzlich erst so sehr Gefeierte habe sich eine Kugel ins Herz gejagt. Und es war so – der junge Künstler war tot! Warum hatte er sich erschossen? Unter allen, mit denen er gelebt, konnte es freilich keiner wissen. Ob etwas Großes mit ihm dahingegangen war – wer durfte es entscheiden? ...

Wahrscheinlich ist nur, daß in einer dunklen Stunde das Bewußtsein in ihm erwacht war, er verdanke seine plötzliche Berühmtheit weniger seiner eigenen Kraft – als dem Wirken eines sonderbaren Zufalls, dem glücklichen Gedanken irgendeines Träumers, der jenes Notenblatt im Walde verlor; und was ihn getötet, war vielleicht Reue, gekränkte Eitelkeit, vielleicht selbst Neid auf den, welcher jenes Thema geschaffen. Gleichviel, er schied aus der Welt, seines Bleibens war nicht mehr unter denen, die ihn verehrten.

Und der, welcher jene Melodie in der Tat, wenn auch unbewußt, geschaffen? Hört es sich nicht an wie ein Märchen? Wie eine Historie, lächerlich, trübselig und erstaunlich zugleich!

Jener Knabe versuchte das berühmte Klavierstück zu spielen – er brachte es nicht zuwege und ließ es sich von seinem Lehrer vortragen. Den Kopf auf die Hand gestützt, saß er da und lauschte andächtig den wunderbaren Klängen – ... und es war ihm wie jedem, der sich in die Schönheit des Themas versenkte. Eine neue, ungekannte Welt stieg von ihm auf, es überkam ihn wie eine Ahnung von einer fernen, phantastischen Herrlichkeit, die man wohl tief empfinden, aber kaum zu fassen vermag ...

Es war die Musik der Sphären, die ihn umquoll. »Welch eine Melodie!« –

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TextGrid Repository (2012). Schnitzler, Arthur. Erzählungen. Welch eine Melodie. Welch eine Melodie. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-D9FA-A