[158] 1124. Das rothe Weiblein.

Mündlich.


Bei dem Dorfe Wißing nicht fern von der Straße, die von Neumarkt nach Regensburg führt, liegt eine Wiese dicht am Walde. Die Wiese gehörte vor vielen Jahren einem wohlhabenden jungen Manne des Dorfes. Auf dieser Wiese sah man damals häufig ein ganz rothes Weiblein grasen, oder man sah sie am Waldsaume dicht an der Wiese unter einem Baume rasten. Oefters auch hörte man sie am frühesten Morgen oder späten Abend ihren Grasstumpf (Sichel) dengeln oder am Wetzstein wetzen. Viele, die des Weges vorübergingen und das Weiblein von Weitem sahen, gingen abseits, machten einen Umweg, bekreuzigten sich und verdoppelten ihre Schritte. Der Eigenthümer selbst traute sich nicht hin, sondern ließ sich das Grasen schweigend gefallen, um so mehr, da an jenen Stellen, wo das rothe Weiblein gegraset hatte, stets eine reiche Menge Futters nachwuchs und sich also eine ergiebige Heuernte ergab.

Die Nachbarin des Besitzers fragte ihn oft, warum er denn nicht hingehe und das rothe Weiblein anspreche. Diese Nachbarin war aber als ein hoffärtiges Weib bekannt, und man sagte allgemein, daß sie nicht gerne in die Kirche ginge. Aber das mußte man ihr lassen, daß sie die schönsten Kühe im Stalle hatte, die am meisten Milch gaben im ganzen Dorfe. Einmal wurde die Nachbarin schwer krank, und man holte wider ihren Willen den Pfarrer. Als er kam, lag sie mit abgewendetem Gesichte im Bette, und als er sie anrührte, um sie zu wecken, war sie kalt und todt und hatte ganz die Gestalt des rothen Weibleins angenommen. Von dem Grase jener Wiese, auf der sie ihr Wesen getrieben hatte, gaben nun die Kühe lange Zeit Blut statt Milch, und noch heut zu Tage soll dieses in manchen Jahrgängen der Fall sein.

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TextGrid Repository (2012). Schöppner, Alexander. Sagen. Sagenbuch der Bayerischen Lande. Dritter Band. 1124. Das rothe Weiblein. 1124. Das rothe Weiblein. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-FDC1-E