[277] 1283. Der Schimmel ohne Kopf.

Mündlich.


Wenn man das alte Schloß zu Furth im Bayerwalde durchwandert, trifft man auf die Ueberreste eines mächtigen, im Vierecke erbauten Thurmes, vom Volke der »Lärmenthurm« benamst, glaublich weil auf seinen Zinnen ehedem der Hochwächter seinen Standplatz hatte und von dort herab das Lärmsignal ertönen ließ, wenn der Feind nahte. Dieser Thurm barg in seinem Erdgeschosse ein Verließ, zu welchem keine ordentliche Thüre führte, sondern nur eine runde Oeffnung an der Stelle des Schlußsteines des Gewölbes. Wer in diesen Kerker versenkt wurde, der durfte der Welt für immer Abschied sagen. In alter Zeit starb hier ein böhmischer Raubritter den schauderhaften Hungertod. Als der auf einem Streifzuge von den Leuten des bayrischen Grenzpflegers Gefangene eben in den Thurm geworfen werden sollte, gelang es ihm, sich den Händen der Schergen zu entwinden und noch einmal seinen Schimmel zu erreichen, der im Schloßhofe graste. Aber die Wächter am Thore ließen schnell das Fallgatter nieder, welches durch seine Wucht dem Pferde den Kopf abschlug. Seitdem kommt der blutende Rumpf des Rosses zu Mitternacht in der Nähe des Grabens, man weiß nicht wie, aus dem Boden hervor, geht langsamen Schrittes, als würde er einer Bahre nachgeführt, über den Marktplatz der Stadt und die anstoßende Gasse entlang zum Thore hinaus, durchwandert auch die ganze Vorstadt und verschwindet endlich auf der sogenannten »Draht« eben so unbegreiflicher Weise, wie er hervorgekommen, in die Erde. Vor ungefähr hundert Jahren soll auch der Reiter noch im Sattel gesessen haben, aber es scheint, daß dieser durch das Gebet mitleidiger Seelen inzwischen vom Banne erlöst worden ist, denn heut zu Tage sieht man nur mehr das Roß allein.


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TextGrid Repository (2012). Schöppner, Alexander. 1283. Der Schimmel ohne Kopf. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-FF80-0