Der erste Schnee

Da tanzten sie, die weißen krausen Flöckchen
Vom Wolkenzeit herab;
Und sanft und warm, wie Lämmerwolle,
Decken sie dich, du Mutter Natur!
So weiß ist nicht der Nonne Silberschleier,
Schlehblüthe nicht so weiß:
Wie junger Schnee im Sonnenglanze,
Thäler und Berge blitzen von ihm.
Schon schüttelt sich der Gaul am leichten Schlitten,
Sein Schütteln ist Musik.
Und unterm Lied der Silberschellen
Gleitet der Schlitten fliegend hinweg.
Ich aber sitze am beschneiten Fenster;
Ein blaues Knasterwölkchen steigt
Mit tausend luftgebauten Schlössern,
Dünnere Lüfte zirkelnd, empor.
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Und Röschens Hand schlüpft unter meinem Schlafrock,
Husch! schnattert sie, mich friert's!
Sanft lehnt sie sich an meine Schultern,
Leben und Wärme duftet sie aus.
Durch's Winterfenster schlüpft ein weißes Flöckchen,
Und fällt auf ihre Brust,
Bläht sich und schmilzt mit einem Seufzer:
Röschen, dein Busen ist weißer, als ich!
Du, kalter Nord, behalte deine Zobel!
Kaninchen, deinen Pelz
Behalte du! Von Röschens Busen
Wallet ein ewiger Sommer mir zu.

Notes
Entstanden 1774. Erstdruck in: Deutsche Chronik, Augsburg (Stage) 1774.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Schubart, Christian Friedrich Daniel. Der erste Schnee. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-00D0-8