[144] 80. Die Quelle

1783.


Insanientis dum sapientiae

Consultus erro, nunc retrorsum

Vela dare, atque iterare cursus

Cogor relictos.

Horat. I. od. 34, v. 2 – 5.


Wie im Gewimmel von der großen Stadt
Diogenes bei hellem Sonnenschein
Mit einer Leuchte in der Hand umher
Lief, und den Menschen suchte, ihn nicht fand;
So lief Jean Jacques umher mit scharfem Blick
Und heißem Seelendurst. Hoch schlug das Herz
Dem Jüngling und dem Mann, dem Greise hoch.
Er suchte Weisheit, fand sie nicht im Tand
Der Wisserei; der Schulstaub war ihm Staub;
Der Afterweisheit lauter Jahrmarkt, wo
Der Thorheit Schell' in allen Winkeln tönt,
Wo feil der Lehrstuhl seine Panazee
Unmündigen anpreiset, wo das Bild
Der Göttin sich im Narrenmantel bläht,
War ihm, was dem ein leerer Becher ist,
Der in der Wüste, unter heißem Strahl
Des Mittags, nach der Quell' im Thale lechzt.
Wohl dem, der an der Quell' im Schatten ruht!
Der Schatten ist kein Traum, die Quelle nicht.
Sie floß zu allen Zeiten, überall,
Hier trüber, heller dort, hier schmal, dort breit,
Genährt vom Himmel und aus tiefem Schoß
Der heimlichen, allnährenden Natur;
Und wo sie fleußt, da labet sie und stärkt
Den Trinkenden mit immer neuer Kraft.
Doch immer fanden sie nur wenige;
Denn eitel gräbt der Fürwitz, und wo der
Den Spaden einsenkt, grüb' er noch so tief,
Entquillt dem Boden nie die helle Flut.
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Doch schreit er jubelnd, wann er feuchten Schlamm,
In welchem nie des Himmels Bild sich zeigt,
Aufgräbt, und ruft die Irrenden herbei,
Die, oft aus Trägheit, oft aus Unverstand,
Aus seiner Grube schöpfen, und den Quell
Bald für ein Märchen halten, jenem gleich,
Der in Elysium die Helden tränkt.
O Einsamkeit, in deinen Schatten fleußt
Der Weisen Labsal, o, wer stärket mich,
Dich zu ertragen! Nie genügte mir
Des Hörsaals hochgelahrter, leerer Tand,
Und nie der eitlen Schlüsse hoher Bau.
Mit Mitleid und Verwundrung sah ich oft
Pedanten auf erhabnen Stufen stehn,
Um welche sich der Schwarm der Jugend drängt
Mit offnem Munde der Aufmerksamkeit,
Den nackten Vögeln in dem Neste gleich,
Die, blind und piepend, mit gedehntem Hals,
Heißhungrig schnappen nach dem hohen Kiel,
Mit welchem sie der lose Bube nährt,
Der sie der Mutterpflege selbst entriß.
Ich hätte blind vielleicht wie sie geschnappt,
Wofern nicht Hellas mich auf mildem Schoß
Gewieget und gesäuget hätte, mir
Das Aug erhellt, und unter Bäume mich
Geführt, die immer Duft und Kühlung wehn,
An Blüten und an goldnen Früchten reich.
Nun sucht' ich auf der Logik Dornen nicht
Die Rosen, welche mir mein Plato gab,
Und hört', o Quelle, deinen Silberton;
Doch Schwäche hielt mich lang von dir zurück,
Und wie das Kind den irren Kräusel treibt,
So trieb die Thorheit lange mich umher,
Und wie das Kind dem bunten Drachen folgt,
Der an dem langen Faden in der Luft
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Hoch schwebet und ein Spiel des Windes ist,
So riß auch bunter Wahn mich hin und her
Und itzt? – Der Schule Lehrern und dem Papst
Ward nur Unsterblichkeit – doch sehn' ich mich,
Dem mattgejagten Hirsche gleich nach dir,
O Quell! nach deinem Thal, o Einsamkeit!
In deine Schatten nahmst du Numa auf,
Den Edlen, welcher weinend dich verließ,
Und auf dem Throne, dem er Würde gab,
Sich sehnte nach den Hainen, wo vordem
Die Weisheit in Egerias Gestalt
Mit ihrem Nektar tränkte seinen Geist.
Im Sonnenglanz, o Weisheit, strahltest du
Dem Seher Gottes; nicht im lauten Sturm,
Nicht im Erdbeben und im Feuer nicht,
Nein, im Gesäusel walltest du ihm sanft
Vorüber, bei der stillen Felsenkluft,
Entfernt vom irrejagenden Geräusch.
Als Gottes Weisheit selbst auf Erden kam,
Da suchte sie die stillen Wüsten oft,
Und weihete zu Paradiesen sie.
Der Seele Leben atmeten in dir,
O Einsamkeit! des hohen Altertums
Gesunde Söhne, Weise wurden die
In deinen Schatten, jene Heilige!
Dein spottet der moderne Moralist,
Und bauet ein Gebäu von Pflicht und Recht,
Wo Schluß auf Schluß sich paßt, wie Stein auf Stein
Sehr fest vielleicht, wofern der lockre Grund
Nicht stürzte, wann der Leidenschaften Strom
Hochschwellend an den Sand des Ufers braust.

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TextGrid Repository (2012). Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu. Gedichte. Gedichte. 80. Die Quelle. 80. Die Quelle. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-1A57-D