584. Langwarden.

a.

Wo jetzt das Dorf Langwarden steht, wohnten einst zwei reiche unverheiratete Schwestern, die beschlossen, mit ihren Reichtümern eine Stadt zu bauen und ließen zuerst eine Straße legen. Als die Arbeiter noch bei der Straße beschäftigt waren, kam ein Fremder des Weges und fragte, was sie da vorhätten. Die Arbeiter erwiderten, es solle dort eine Stadt gebaut werden, und mit der Straße machten sie den Anfang. »Na,« sagte der Fremde, indem er weiter ging, »dat schall ok lang wahren« – das wird auch lange währen. Und noch war die Straße nicht fertig, da starben beide Schwestern kurz nach einander, und der Bau der Stadt wie der Straße blieb bliegen. Aber ein Dorf bildete sich nach und nach an der Straße und erhielt nach den Worten des Fremden den Namen Langwarden. Früher war Langwarden das einzige Dorf im Butjadingerlande, das sich einer gepflasterten Straße rühmen konnte. – Einige sagen, die beiden Jungfern hätten zu Varel gewohnt, und nach dem Tode der einen habe die andere den Mut (die Lust) verloren.

b.

Die Kirche zu Langwarden ist von Tuffsteinen erbaut, die man von England herüberholte, indem man für jede Schiffsladung Steine eine Ladung Gerste hingab.

c.

Zu Langwarden hat ehemals außer der jetzigen Kirche noch eine zweite Kirche gestanden, welche die Brüderkirche hieß, weil sie von zwei Brüdern erbaut war Sie stand auf dem alten Kirchhofe, welcher der Riesenkirchhof benannt wird, weil [392] dort Riesen begraben liegen. Ein steinerner Sarg, den man dort ausgegraben, liegt bei der Pastorei und heißt der Riesensarg. An der Pastorei befindet sich ein alter Flügel, das Steinhaus genannt, welches ein Teil eines ehemaligen Mönchsklosters gewesen sein und durch einen unterirdischen Gang mit dem Riesenkirchhofe und weiter unter der Straße hin mit der jetzigen Kirche in Verbindung gestanden haben soll. Der Riesenkirchhof führt auch den Namen Hohe Kanzel und zwar von folgendem Vorfall. Auf dem Hohenwege, einer Sandbank in der Wesermündung, wohnten ehemals die Herren vom Hohenweg, sehr reiche und üppige Leute, die nach Langwarden zur Kirche gehörten. Sie litten nicht, daß der Gottesdienst eher angefangen werde, als sie erschienen seien, und als sie einmal bei ihrer Ankunft den Pastoren schon auf der Kanzel fanden, schossen sie nach ihm. Da führte der Pastor die Gemeinde aus der Kirche auf den Riesenkirchhof und hielt seine Predigt von dort herab.

d.

Wie die Herren vom Hohenwege untergingen und nur der Pastor mit seiner Familie sich rettete, ist 34c. erzählt. Eine Wasserflut riß das Land fort, nur der Prediger mit seiner Familie konnte, rechtzeitig gewarnt, einen Wagen besteigen und mit diesem unter steten Fährlichkeiten, immer vom Wasser verfolgt, eine sichere Stätte erreichen. Die Fahrt des Predigers und die verschiedenen Zwischenfälle, die er auf derselben erlebt haben soll, sind vielfach benutzt, um Namen von Dörfern und Häusern in dieser Gegend zu erklären. Um alle derartigen Namensdeutungen zu ermöglichen, muß freilich die Fahrt kreuz und quer gegangen sein. In Langwarden rief der Prediger: »Wo schall dat doch so lang wahren!« in Ruhwarden: »Och Gott, schall denn gar kien Ruhwarden!« Bei Potenburg waren die Pferde schon so ermüdet (stieg das Wasser so hoch), daß sie kaum noch Poten schlagen konnten; bei Stelterei ging das Gestell des Wagens verloren; beim Stick trieb das Gefährt zu Stick (wurde aufgehalten), weil das eine der Pferde stürzte; zu Burgenburg fühlten sie sich geborgen.

e.

Zwischen den Mündungen der Weser und Jade, eine gute Meile nördlich von Langwarden, lag ehemals, von Wasser umflossen, die Burg Mellum, welche Herzog Walbert, der Begründer von Oldenburg, erbaut hatte. Unter Graf Huno's Regierung wurde sie durch des Wassers Gewalt vernichtet, nachdem sie etwa zweihundert Jahr gestanden hatte. Noch lange[393] Zeit hinterher haben Leute in jener Gegend, wo die Burg gelegen, eine Kirche gesehen. (Hamelmann, Oldenb. Chron., S. 28.)

f.

Die Butjadinger hatten einen kupfernen Siel erbaut, weil ein solcher dem Andrange der See am besten widerstanden haben soll. Ihre Feinde aber bestachen einen Mann mit einem grauen Rock, einem weißen Stock und einer bunten Kuh, denselben zur Unzeit zu öffnen. Da rauschten die Wogen herein und rissen den Deich und eine große Fläche Landes fort, und auch der Uebeltäter selbst mußte jämmerlich ertrinken. Seitdem klappert und rauscht der Siel bei schwerem Wetter und ist weithin hörbar, und dazwischen erschallt aus der See eine Stimme:


»O graue Rock,
o witte Stock,
o bunte Koh,
is noch de koppern Siel nich to?«

(Vgl. 558a. Der weiße Stock ist sonst das Attribut des Bettlers, und grade im Butjadingerland, wo bislang das Erbrecht im Gegensatz zu den übrigen Lokalrechten des Herzogtums den Witwen kein Erb-oder Nießbrauchtsrecht an dem Nachlasse ihres Mannes zugestand, legt man sprichwörtlich den Witwen die Klage in den Mund: »Ick bün doch mines Mannes Hor nich wäsen, dat ick mitn witten Stock von de Stä afftrekken schall.«)

Auf dem Hohenwege eine unterseeische Kirche mit Schätzen: 197c. – In Mürrwarden Zwerge: 257a.


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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Strackerjan, Ludwig. 584. Langwarden. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-34D5-0