[258] Der Spaziergang

Den Berg, der den Florentinern
Immerdar vor Augen schwebt,
Sind wir heut erstiegen,
Das alte Fiesole zu besuchen.
In dem Kloster dort erlabten uns Gebilde
Von Giotto und dem frommen Johann,
In der Bücher Pracht.
Doch endlich sind wir höher geklimmt,
Zur Spitze hinauf,
Wo unter Cypressen
Einsam das Kloster der Franziskaner ruht.
Ein kalter Wind durchsaust die Berge,
Nach dem Gewitter ist die Gegend trübe,
[259]
Weit umher ergeht sich hier der Blick
Ueber Felsen weg durch Thäler hin,
Und zu den Füßen liegt Fiesole und Florenz.
Wie wir mit den Mönchen gespeist,
Erbietet man sich zu unserm Ergetzen,
Da das Wetter rauh und unfreundlich,
Mit uns Schach zu spielen.
Meine Gefährten treten beschämt zurück,
Und ich, überrascht, als der Einzige
Der die Kunst versteht und übt,
Erbiete mich, der Landsmannschaft Ehre zu retten.
Doch selbst seit der Kindheit
Hab' ich kaum den Stein berührt,
Und nie hab' ich mehr von der Weisen Ergötzung
Gefaßt als nur die Züge.
Der klügste, gewandteste Pater wird mir
Als Feldherr gegenüber gestellt,
Ein feiner Kopf, so freundlich-schön
Wie man ihn wohl auf alten Bildern sieht.
[260]
Der Kampf beginnt: –
Und ich, nur in Aengsten,
Nicht gleich die schlimmsten Blößen zu geben,
Ziehe, im Zagen mit zaudernden Unwissen,
Und rings die andern,
Alte wie Junge
Erwundern mein kluges, feines Spiel,
Der Feldherr selber
Weiß kaum sich zu wehren,
Und ich verstehe selbst von meinen Listen nichts.
Lob auf Lob, Bewundrung, laute,
Ermuthigt mich, und trunken, erhitzt
Such' ich mir eines Planes bewußt zu werden.
Schon giebt man den Pater verlohren,
Und ich strebe tantalisch vergeblich
Zu sehn, die Einsicht nur etwas zu gewinnen,
Doch nur mechanisch rückt der Finger die Holzgestalten.
[261]
Man sagt, in drei Zügen sei ich der Meister,
Da verläßt plötzlich der Genius den Blinden,
Und lautes Gelächter statt der Ehrfurcht
Umschallt und beschämt mich,
Denn wie ich rücke spiel' ich mich selber
In wenigen Zügen matt,
Und rings die Versammlung
Begreift so wenig
Die hohe List, wie jetzt die Einfalt.
So erzählt man, daß der große Condé
Als Meister begann
Und beschloß als Schüler.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Tieck, Ludwig. Gedichte. Gedichte. Dritter Teil. Rückkehr des Genesenden. Der Spaziergang. Der Spaziergang. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5352-F