[94] Liebe und Treue

Seht die Wasser, wie sie gleiten,
Und sich in der Fluth die Bäume
Still beschauen, goldne Träume
Seh' ich durch die Wolken schreiten.
Wie die Wogen ringend streiten,
Sich entfliehen und vereinen,
Spielen mit den Widerscheinen,
Und die Blumen roth und gold
Sich bespiegeln, und so hold
Thau in diese Wellen weinen!
Sieh, es ist ein Liebesringen,
Welle hascht die flücht'ge Welle
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Und sie lacht so fröhlich, helle,
Glänzend sie sich all verschlingen,
Alle liebend sich durchdringen,
Im Ergötzen lieblich spielen;
Wie sie durch einander wühlen
Scheint der reine blaue Himmel
In das hüpfende Getümmel,
Seine Wange abzukühlen.
Also spiegelt Liebestreue
Sich im wechselnden Empfinden,
Wie Gefühle kommen, schwinden,
Im Erinnern baden, neue
Sich vermischen in die Reihe,
Wandeln vor und gern zurück,
Doch der innerlichste Blick
Sieht Gestalten fortgeschwommen,
Und die andern nahe kommen,
Und in allen nur Ein Glück.
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Darum wechselt nur Gedanken,
Wie ihr wandelt in Gestalten,
Weiß ich eins doch fest zu halten
Ohne Wandel, ohne Wanken.
Denn nie darf der Glaub' erkranken,
Glaube ist das Element,
In dem nur die Liebe brennt.
Und des Herzens reinste Bläue
Klärt sich hell und heller, Treue
In der Liebe sich erkennt.

Notes
Aus »Kaiser Octavianus«. Erstdruck: Jena (Frommann) 1804.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Tieck, Ludwig. Liebe und Treue. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-547D-7