Raffael

1.

Es giebt Seelen, doch wen'ge, die, reiner als andre, vom Urquell
Sich, vom unendlichen Grund alles Lebend'gen, gelöst.
Jedes Räthsel der Welt es scheint in ihnen gefunden,
Jeglicher Widerstreit hold und entzückend versöhnt.
Nimmer trübt sich in ihnen die übernatürliche Klarheit,
Und doch sind sie wohl nie sich ihrer Allmacht bewußt.
[51]
Keines Zweifels erzitternder Hauch regt die liebliche Tiefe
Ihres Innern, es ruht stille der Himmel auf ihm.
Aehnlich sind sie dem Herrn, der die ungemessenen Kräfte
Seiner Natur oft im Bild blühender Rosen verhüllt.
Ja sie schaffen wie er! Nicht im Wirbel des Sturms, in des Frühlings
Sanft holdseliger Lust sproßt und erschließt sich der Keim,
Der sich zur Fülle der Frucht in frischer Gesundheit erschwellet.
Nur in der Zephire Wehn reift sie vollendet heran.
So ihr ruhiges Wirken. Wie all' ihr Wesen nur Einheit,
Wie selbst die flüchtige Welt ihnen harmonisch erscheint,
So am geheimen Punkt, aus dem in vollkommenem Gleichmaaß
Sich der entwickelte Stoff rein und gesondert belebt,
So das erstehende Werk erfassen sie auch, und bescheiden
Zeigt es sich jeglichem Blick, aber es reizt nicht, es ist.
Nicht im üppig erquellenden Werden, im schmachtenden Welken,
Stellen sie's eben wo's ist, wo es entfaltet ist, dar.
Drum ist ihr Werk das Höchste: doch jene Schöpfung der Einheit
Nennet man schön, die Idee, die sie beseligend weckt,
Nennt man Schönheit, und so, o Raffael Sanzio, bist du
Der vollendetste mir, weil du der schönste mir bist.

2. Transfigurazione

In die glänzenden Himmel in überschwänglicher Glorie
Hebt sich der Heiland der Welt über den Tabor empor.
Wie er im Lichte zumal der enthüllten Herrlichkeit Gottes,
Nicht als den Menschen, wie er Menschen erschienen, sich zeigt,
Also dünkt mich, hat auch in seiner vollendeten Hoheit
Raffaels Genius sich unseren Augen verklärt.

[52] 3.

Ja schon dem Lichte vertraut und dem höheren Reiche des Lebens
Schwand er der Erde nun satt, plötzlich den Jüngern hinweg.

4. Logen

Ist dir der heilige Bund, der alte, nicht klar, o so grüble
Nicht darüber und sieh Sanzio's Logen nur an.

5. Stanzen

Nenn' ich euch wohl den Tempel der Kunst? So erscheint die Geschichte:
Meinen Tempel hab' ich, spricht sie, hierin mir erbaut.
Aber die Philosophie eröffnet die Schule der Weisheit,
Zeigt mit erhabenem Stolz ihre Gewaltigen vor.
Zeig' ich Apoll' euch nicht und die Musen im Chore der Dichter,
Spricht die Dichtkunst, ist nicht mein hier der größte Triumph?
Nein, antwortet die Religion, mein tiefstes Geheimniß
Und mein Heiligthum ist hier euch vors Auge gestellt.
Oeffn' ich den Himmel euch nicht, und zeig' euch den Vater im Glanze
Seines Thrones, den Sohn nicht und den heiligen Geist?
Unser ist dieser Raum, will die Kirche, was hier wir und drüben
Lösen und binden, du siehst's, hier ist mein mächtigstes Reich.
Da ertönt's von Stimmen, es naht die Menschheit, ich habe
Mein lebendigstes euch, meinen Charakter, enthüllt.
Nehmt denn alle Besitz, für all' ist Platz in dem Tempel;
Mir gehört nur der Schmerz seiner Vergänglichkeit an.

[53] 6. Madonna del Gran Duca 1

Wie voll Unschuld du bist, du süß jungfräuliches Antlitz,
So befangen, so sanft, kaum noch der Kindheit entblüht.
Schüchtern noch thust du, obwohl schon Mutter geworden, so bist du
Dir's nicht bewußt, und weißt selbst noch nicht, wie dir geschah.

Fußnoten

1 Dieses himmlische Bild der Seelenschönheit Raffaels ist im Palast Pitti in Florenz am Bett des Großherzogs, und darum so genannt.

7. Madonna di Foligno

In den Himmel erhaben, zur Königin herrlich verkläret,
Blieb dir das Herz, wie es war, aber es wuchs dir der Geist.
Denn man betet dich an, du umgiebst dich mit strahlender Hoheit,
Und der Vater hat dir längst dein Geheimniß enthüllt.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Waiblinger, Wilhelm. Raffael. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-8BDB-3