Das Lied vom gehorsamen Mägdlein

Die Mutter sprach in ernstem Ton:
»Du zählst nun sechzehn Jahre schon;
Drum, Herzblatt, nimm dich stets in acht,
Besonders bei der Nacht.
Verlier dich von dem Lebenspfad
Nie seitwärts ins Geheg.
Geh immer artig kerzengrad
Den goldenen Mittelweg.«
Da kommt nun in der Dämmerstund
Des Pulvermüllers Heinrich und
Küßt mich – mir ward gleich angst und bang –
Wohl auf die rechte Wang:
»O Heinrich, das verbitt ich mir;
Sieht's Mutter, setzt es Schläg'.
Am allerbesten wählen wir
Den goldenen Mittelweg.«
Und plötzlich schreit er glutentflammt:
»Ich führe dich zum Standesamt! –«
»Schweig«, sag ich, »unverschämter Wicht;
Dahin bringst du mich nicht!« –
Da flüstert er und freut sich schier,
Weil ich's mir überleg:
»Nun gut, mein Schatz, dann wählen wir
Den goldenen Mittelweg.«
Und wenn ich nun zur Ruh mich leg,
Mir träumt vom goldenen Mittelweg;
Mein Spielzeug macht mir kein Pläsier,
Ich gäb es gern dafür,
Gäb meine Schuh, mein Röcklein fein,
Weiß Gott, ich gäb noch mehr;
Hätt nie geglaubt, daß ich solch ein
Gehorsam Mägdlein wär.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Wedekind, Frank. Das Lied vom gehorsamen Mägdlein. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-94A2-7