Felix und Galathea

Fragment


Den Sommer 1881 verbrachte ich infolge einer Rippenfellentzündung nicht auf dem Gymnasium, sondern in meinem Elternhaus. Ich fürchtete sehr, mich zu langweilen, und beschloß daher, ein Schäferleben zu führen. Ein Milchmädchen war vorhanden. Unsre drei Eselinnen, auf denen wir in früheren Jahren geritten hatten, mußten als Schafe herhalten. Ich besang meine Umgebung mit dem einzigen Zweck, meine siebzehnjährigen Kameraden, sobald ich wieder unter ihnen sein würde, an unsern ziemlich häufigen Kneipabenden mit meinen Versen zu unterhalten. Das Heft, in dem das ganze Schäfergedicht enthalten war, hat in späteren Zeiten einmal ein Freund in Verwahrung genommen und verloren. Vor mir liegen einige Fragmente, die mir trotz ihrer äußersten Anspruchslosigkeit lieb geblieben sind.

Präludium
oder wie ein schönes Lied in einer schönen
Situation entstanden ist

Es graut der Morgen und die Sterne sinken,
Bis alle in der kalten Flut ertrinken.
Die große Sonne majestätisch brennt
Schon feuerrot am fernen Firmament.
Kalliope, die schönste der neun Musen,
Erhebt sich in der goldnen Strahlen Schein
Von ihrem Lager, und ihr stolzer Busen
Saugt lechzend frische Morgendüfte ein.
Noch ganz entkleidet, ohne mit den Reizen
Der hohen göttlichen Gestalt zu geizen,
Tritt sie hinaus ins Freie der Natur.
Aus ihren großen, dunkelblauen Augen sprühen
Schon wieder neue, wunderbare Phantasien,
Und ihr Gedanke folgt der irren Spur
Der teuren Helden, die sie zu besingen
[385]
Die straffgespannten Saiten läßt erklingen.
Des Waldes dunkle Kühle nimmt sie auf,
Und folgend eines Baches klarem Lauf
Gelangt sie rasch mit zielbewußtem Schritte
In ihres Reiches unwegsame Mitte.
Hier läßt sie sich auf einen Baumstumpf nieder.
Im weiten Umkreis herrscht das tiefste Schweigen
Bis auf ein Wispern in den höchsten Zweigen,
Bis auf ein Felsenecho ihrer Lieder.
Die Strahlen schießen senkrecht nun herunter,
Die ganze Schöpfung, eben noch so munter,
Erschlafft im Zittern ausgestoßner Gluten.
Kalliope tritt an des Baches Rand,
Sie legt die goldne Laute aus der Hand,
Sie steigt hinab in die kristallnen Fluten.
Die Wasser kommen zögernd angezogen,
Sie läßt von ihnen sich das Haar zerwühlen,
Die volle Brust, den weißen Leib bespülen,
Glückatmend treibt sie auf den kalten Wogen.
Sie dichtet summend eine Melodie,
Gedanken haben Fleisch und Blut erhalten,
Als Menschenkinder wandeln die Gestalten
Vorbei an ihrer klaren Phantasie.
Im schönen Land Italien weilt ihr Sinn,
Ihr Herz verschwendet seine reichsten Gaben.
Sie singt von Felix, einem Hirtenknaben,
Von Galathea einer Schäferin.

Chor der Alten

Majestätisch und mit Schweigen
Treten leise wir hervor,
Rufend, aufgestellt im Reigen:
Galathea, sieh dich vor!
Hör uns alte Greise an,
Die wir in der Zukunft lesen,
Was schon öfter dagewesen
Und auch dir passieren kann.
[386]
Siehst du jenen bleichen Knaben
Hinter seinen Schafen traben?
Galathea, siehst du nicht,
Daß er mit sich selber spricht?
Mit der Zunge, wie vor Hitze,
Leckt er sich die Nasenspitze.
Felix nennt der Knabe sich;
Galathea, hüte dich!
Sieh, er schmiedet seine Pläne,
Kommt dann in dem Kleid des Schafes,
Stört die Ruhe deines Schlafes,
Plötzlich weist er dir die Zähne
Und bevor du ihm entflohn,
Beißt er dir die Kehle schon.
Drauf packt er dich bei den Händen,
Um sein Mordwerk zu vollenden;
Deine Glieder strampeln noch,
Aber er bekommt dich doch.
Plötzlich fühlst du aus den Knien
Alle Kraft von hinnen ziehen,
Deine Muskeln werden schwach,
Du beschränkst dich auf ein Ach.
Er indes wird immer toller,
Seine Miene sorgenvoller;
Dabei brüllt er wie ein Leu,
Weil ihm das Gefühl noch neu.
Dich jedoch packt erst ein Schlucken,
Dann ein Zittern, dann ein Zucken,
Und dann wird dir so gewaltig,
Wie du's nie an dir erprobt.
Und du küßt ihn mannigfaltig,
Daß er's nur nicht lassen wolle,
Bis sich der erwartungsvolle
Jubel in dir ausgetobt. –
Das ist so in großen Zügen
Das gefährliche Vergnügen,
Dran der bleiche Knabe denkt,
Wenn er seine Schafe tränkt.
Du kannst freilich nicht begreifen,
Welche Pläne in ihm reifen,
[387]
Denn noch bist du nicht gerissen
Aus dem Traume deiner Kindheit,
Aus der Ruhe deiner Blindheit
Durch ein unheilvolles Wissen.
Doch er wird die Heißbegehrte
Lehren, was das Schätzenswerte
Hier auf Erden und wozu
Er nicht auch so dumm wie du.

Zwiegespräch

zwischen Felix, dem Schäfer,

und Galathea, der Schäferin

Felix

Galathea, wie lange schon
Hab ich dich nun gebeten!
Galathea, nur kalter Hohn
War die Antwort auf all mein Flöten,
Auf mein Trompeten, auf mein Schalmein,
Auf meine entzückenden Weisen!
Oh, Mädchen, du hast ein Herz von Stein
Und eine Tugend von Eisen!
Galathea

Mein lieber Felix, was bist du nur
So traurig im schönsten Lenze?
Komm mit mir hinaus auf die Blumenflur,
Da schwellen die üppigsten Kränze.
Sieh, wie die Vögel so zärtlich tun,
Wie die Hunde so selig schlafen.
Sieh, wie so friedlich im Grase ruhn
Die Böcke bei unsern Schafen.
Felix

Oh, Galathea, die Böcke sind satt,
Die Schafe in Rührung zerflossen.
Von meinen Empfindungen aber hat
Sich keine den deinen erschlossen.
Es brodelt in mir wie in einem Vulkan,
Ich muß mich beständig kratzen;
Und wird mir nicht bald Genüge getan,
Dann werde ich nächstens zerplatzen.
[388] Galathea

Ach, Felix, wir leben im Monat August,
Da schwitzt man begreiflicherweise;
Und wenn du dich überdies kratzen mußt,
Dann hast du wahrscheinlich Läuse.
Sieh nur, welch reizenden Kranz ich hier
Aus Himmelsschlüsseln gewunden!
Kränz ich damit deine Locken dir,
Dann ist alles Jucken verschwunden.
Felix

Es handelt sich nicht um das Jucken der Haut;
Das würd ich wohl schwerlich noch spüren! –
Oh, Galathea, sei meine Braut;
Du hast keine Zeit zu verlieren.
An deinem letzten harmlosen Schrei
Möcht ich so gerne mich freuen.
Du findest ja auch deine Rechnung dabei,
Du wirst es gewiß nicht bereuen.
Galathea

Oh, Felix, ich habe, solang ich weiß,
Noch nie eine Rechnung gefunden;
Doch wird auch mir jetzt auf einmal so heiß,
Und meine Ruh ist verschwunden.
Auch spür ich ein Jucken, so sonderbar,
Wo, läßt sich genau nicht entscheiden.
Ich glaube, daß welche aus deinem Haar
In meinen Locken schon weiden.
Felix

Bleib endlich mit deinen Läusen fort!
Du willst mich gar nicht verstehen!
Dich freut es, mir jedes gefühlvolle Wort
Im Munde herum zu drehen.
Dir fehlen, scheint mir, am Schädel herum
Die allernötigsten Schrauben.
Oh, Mädchen, bist du denn wirklich so dumm,
Wie deinem Gesicht nach zu glauben?
Galathea

Ich bin nicht dümmer, als Gott mich schuf.
Ich danke dem Himmel deswegen.
Es ist nicht so einfach, mit dem Vesuv
Eine Unterhaltung zu pflegen.
[389]
Du sprichst so verworren, so unbestimmt;
Ich bin nicht klug draus geworden.
Man fürchtet, wenn man es wörtlich nimmt,
Du wolltest einen ermorden.
Felix

Oh, Galathea, spotte nicht mein,
Und sei mir nicht böse, du Süße,
Denn meine Gefühle sind ebenso rein
Wie deine zwei lieblichen Füße.
Ich suche mein Himmelreich und mein Glück,
Den Wahnfried all meiner Sorgen.
Nur fehlt mir dazu das nöt'ge Geschick;
Ich find es vielleicht erst morgen.
Galathea

Oh, Felix, wüßt ich, wohin nur gleich
Sich deine Blicke verkriechen!
Auch wirst du auf einmal so kreidebleich
Und fängst so stark an zu riechen.
Das ist doch ein seltsam entsetzlicher Brauch,
Dein Bild ist gänzlich verschwommen.
Hei-hei-hei-hei-heiratest du mich denn auch,
Wenn ich in die Wochen gekommen?
Felix

Galathea, jetzt wird mir die Welt zu eng.
Ich hab die Besinnung verloren.
Mir donnert dein Schneng-tege-tege-teng-teng-teng
Wie höllischer Spott in den Ohren.
Du selber trägst die Verantwortlichkeit
Für die Wirkungen deiner Partien.
Der Übelstand, welcher nach Abhilfe schreit,
Ist längst aufs höchste gediehen.
Galathea

Oh, Fe-, oh, Felix, oh, Felix, oh, Fe-,
Oh, Felix, ist dir auch behaglich?
Wenn ich deine zornigen Blicke seh,
Scheint mir dein Vergnügen sehr fraglich.
Nicht herrlicher denk ich es mir, wenn ich
Das ewige Leben erwerbe;
Doch deine Grimassen sind fürchterlich,
Du machst mich tot, ich sterbe.
[390]

Chor der Nymphen

Seit Jahrtausenden
Weilen wir hier
An diesem Teiche.
Immer das gleiche
Schauen wir.
Verlockende Worte
Von Lust und Freuden
Führten die Menschen
Zu allen Zeiten
Zu diesem Orte.
Die römischen Frauen
Wo sind sie geblieben?
Wir sehn sie nicht mehr.
Hier kamen sie her,
Um in den lauen
Fluten zu lieben.
Auch unsre Genossen
Dem Himmel entsprossen,
Die Oreaden
In Busch und Bäumen
Sie pflegten zu baden
Hier und zu träumen.
Die zottigen Faune,
Mit denen wir liebten,
Im Jagen uns übten
In wilder Laune.
Sie alle schwebten,
Die einst hier lebten,
Zum Himmel wieder,
Aus diesen Triften
Empor zu den Lüften,
Zu ihrem Gebieter.

Chor der Nixen

Ihr glücklichen Kinder
Schlürft das Vergnügen;
Bald wird es versiegen;
Ein langer Winter
Rafft es dahin.
Euer Sinn
Schaut nicht vorwärts,
Schaut nicht zurück.
Vergängliches küßt ihr,
Sorglos genießt ihr
Den Augenblick.
Wir können nicht lieben;
Von Wind und Wellen
Umhergetrieben,
Bis wir zerschellen,
Ward uns als Leben
Nicht mehr gegeben
Als euch im Traum.
Wunschlos entstehen wir,
Wunschlos vergehen wir
Wieder zu Schaum.
[391]

Zwiegesang

zwischen Felix, dem Schäfer, und Galathea,

der Schäferin

Felix

In dem wundervollen Morgensonnenschein,
Galathea, ach wie bist du hold!
Deine Schwanenbrust erstrahlt wie Elfenbein,
Deine Locken schimmern wie das Gold!
Freudig darf ich deinen Leib umschlungen halten,
Auf den Knien einen strammen Jungen halten!
Und in deinen Marmorarmen selig sein,
Ohne daß uns drob der Himmel grollt.
Galathea

In der wundervollen frischen Morgenluft
Hab ich meinen Felix innig lieb.
Aus den Wiesen strömt ein holder Blumenduft.
Und bisweilen macht ein Vogel »piep«.
Wolln wir uns nicht unter eine Hecke strecken
Und zur Unterhaltung eine Schnecke necken?
Bis zu neuen Taten uns der Kuckuck ruft,
Wenn zu tun uns noch was übrigblieb.
Felix

Und der wundervolle Morgensonnenglanz,
Galathea, macht dich doppelt süß.
Dir zu Häupten fliegt ein bunter Schwalbenschwanz,
Und ein Brummer fliegt dir um die Füß.
Und ich darf dir deine goldnen Locken küssen,
Ohne daß wir in der Stube hocken müssen.
Deine Gegenwart genieß ich voll und ganz,
Die Vergangenheit erscheint mir mies.
Galathea

In dem wundervollen frischen Morgenhauch
Kommst du, Felix, wie ein junger Gott.
Deine Lippen atmen keinen Tabaksrauch,
Deine Beine hebst du flink und flott.
Willst du nicht noch mal nach deiner Flöte greifen
Und ein hübsches Liebeslied von Goethe pfeifen?
Das bleibt doch in Ewigkeit der schönste Brauch,
Leugnen kann es nur ein Hottentott.
[392] Felix und Galathea

Und so sagen wir denn bis zum nächsten Jahr
Euch, ihr lieben Freunde, gute Nacht,
Hoffend, daß es kein zu großer Blödsinn war;
Uns auf jeden Fall hat's Spaß gemacht.
Deshalb wolln wir auch nur recht viel Leute haben,
Die an Kunstgenüssen sich wie heute laben.
Dann gedeihen alle Künste wunderbar,
Bis der Weltenbau zusammenkracht.

Finale

Es streicht durch die Wälder ein kalter Wind,
Die Blätter fallen herab.
Und Galathea, das süße Kind,
Ich legte sie eben ins Grab.
Still deckt ich sie zu und weinte nicht;
Sie war noch immer so schön.
Ich küßte ihr holdes Angesicht
Auf baldiges Wiedersehn.
[393]

License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Wedekind, Frank. Felix und Galathea. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-95DE-0