Walt Whitman
Grashalme
(Auswahl)
(Leaves of Grass)
[5] Aus den »Trommelschlägen«
[6]Scharf verfolgt und des Weges unkundig
[8] Tagesanbruch im Biwak
Wer bist du, älterer Mann, so hager und hart mit stark ergrautem Haare, das Fleisch tief eingesunken unter den Augen?
Und dann zum Dritten: ein Antlitz nicht Kind nicht Greis, sehr sanft, wie schönes gelbweißes Elfenbein.
Junger Mann, ich glaube ich kenne dich! –
Dies Gesicht, dünkt mich, trägt Jesu Christi eigensten Zug, tot und göttlich, uns allen ein Bruder, und hier wieder gestorben ...
[9] Die Totenwache
Eines Nachts im Felde hielt ich seltsame Totenwacht,
Da du, mein Sohn und Kamerad, an meiner Seite gefallen.
Nur einmal blickt ich nach dir, und deine lieben Augen sahen mich an mit einem Blick, den ich nimmer vergesse;
Nur einen Händedruck, o Knabe, den du mir gabst im Liegen –
Dann eilte ich fort in die Schlacht, in die unentschiedene Schlacht ...
Bis endlich erlöst, spät in der Nacht, ich den Weg wieder fand zu der Stelle,
Und dich im Tode so kalt, Kamerad – deinen Leib, mein Sohn, der du meine Küsse erwidert (nie mehr auf Erden erwidern kannst).
Dein Angesicht dem Sternenlicht entblößt – seltsam wars – kühl wehte der Nachtwind;
So hielt ich die Totenwache, rings um mich her das Schlachtfeld dunkel gebreitet,
Totendienst wunderbar süß in der duftigen schweigenden Nacht;
Nicht eine Träne fiel, kein tiefer schwerer Seufzer;
Lang, lang starrte ich so vor mich hin;
Dann, halb ruhend am Boden, saß ich bei dir und stützte das Kinn in die Hände;
Unvergängliche Stunden, groß und geheimnisreich, durchlebte ich so mit dir, mein liebster Gefährte;
Kein Wort, keine Zähre; Wachen in Schweigen, Liebe und Tod für dich, mein Sohn und mein Krieger;
Droben zogen schweigend die Sterne; neue stiegen herauf im Osten;
[10] Letzte Ehrenwache für dich, mein tapferer Junge;
(Retten konnt ich dich nicht; rasch war dein Tod; treu sorgt ich um dich im Leben – ich glaube wir sehen uns wieder dereinst).
Dann beim letzten Zögern der Nacht, als der Tag schon zu dämmern begann,
Hüllte ich ihn in die Decke, sorglich gewickelt über den Kopf und unter die Füße,
Und bettete ihn, gebadet im Licht der höhersteigenden Sonne, in sein rauhes Grab.
So endete meine Totenwache auf dem nächtlichen Felde der Schlacht,
Für den Knaben, der mich wieder geküßt, für den schnell Gefallenen;
Nimmer kann ichs vergessen wie der Tag heller zu leuchten begann und ich mich erhob von der frostigen Erde,
Meinen Soldaten in seine Wolldecke hüllte
Und ihn begrub wo er fiel.
[11] Kühn, vorsichtig und treu und mein lieber Gefährte
[12] Grablied für zwei Veteranen
[14] Kavallerie durchreitet eine Furt
[15] Der Kapitän
[16] Zu Präsident Lincolns Bestattung
4. Mai 1865
Grabschrift:
[17] Sang an den Tod
Aus der Trauer-Ode zu Lincolns Gedächtnis
[20] Jahr, das unter mir bebte!
[21] Inschriften
[22]Das eigne Selbst singe ich
Das eigne Selbst singe ich – ein einfach Einzelner,
Und spreche dennoch das Wort: Demokratisch,
Das Wort: ›En Masse‹.
Physiologie vom Kopf bis zu den Füßen singe ich;
Nicht Physiognomie oder Verstand allein sind der Dichtung wert; die Ganzheit der Form ist weit wertvoller,
Die weibliche Form, gleichwie die männliche, singe ich.
[23] In Schweigen versunken
So sei es, erwiderte ich;
Auch ich, hochmütiger Schatten, auch ich singe den Krieg, länger und gewaltiger denn je,
Mit wechselndem Glück in meinem Buche – Flucht, Angriff und Rückzug – der Sieg ungewiß und verzögert – (und doch scheint er mir sicher am Ende),
Das Schlachtfeld die Welt, für Leben und Tod, für den Leib und für die unsterbliche Seele.
Ja! Auch ich bin gekommen zu sin gen den Sang der Schlachten,
Ich züchte vor allem tapfere Krie ger.
[24] An einen Historiker
Du, der Vergangenes verherrlicht,
Das Äußerliche durchforscht, das Sichtbare an den Rassen – das Leben, das sich offenbart hat;
Der den Menschen behandelt als ein Geschöpf der Politik, der Gesellschaft, als Herrscher und Priester.
Ich, Bewohner der Berge, berichte vom Menschen wie er ist in sich selbst, in eigenem Rechte,
Fühle den Pulsschlag des Lebens wo er sich selten gezeigt, (den großen innern Stolz des Menschen);
Ich, Sänger der Persönlichkeit, zeichne die Umrisse des Werdenden,
Entwerfe die Weltgeschichte der Zukunft.
[25] Das Buch
[26] An die fremden Länder
[27] In Schiffen auf hoher See
Das ist des Ozeans Gedicht!
[29] Das abfahrende Schiff
[30] Für ihn singe ich
[31] Immer noch durch den Einen
[32] Schließt nicht eure Türen
[33] Einem Fremden
[34] Wo ist ein Platz belagert?
[35] Künftige Dichter
Kommende Dichter, Redner, Sänger, Musiker der Zukunft!
Nicht Heute soll mich rechtfertigen und Antwort geben, wozu ich da bin;
Ihr aber, ein neues Geschlecht, eingeboren, rüstig, athletisch, größer denn je,
Erhebt euch! denn ihr sollt mich rechtfertigen,
Nur ein paar andeutende Worte schreibe ich für die künftige Zeit,
Ich trete nur einen Augenblick vor, um gleich wieder ins Dunkel zurückzueilen.
Ich bin wie einer, der dahinschlendert ohne ganz still zu stehen, euch einen Blick zuwirft und sich dann wieder abwendet,
Und es euch überläßt, zu beweisen und zu erklären.
Das Wichtigste erwarte ich von euch!
[36] An die Staaten
Gesang von mir selbst
Ich bin Müßiggänger und lade meine Seele zu Gaste,
Ich lehne mich an oder schweife umher nach meinem Behagen, und betrachte einen Halm des Sommergrases.
Glaubensbekenntnisse und Schulen ruhen eine Weile im Hintergrund,
Treten zurück, nach dem geschätzt was sie sind, doch nimmer vergessen,
Ich nehme alles in mich auf, mag Gutes oder Böses daraus erwachsen, ich lasse reden auf jede Gefahr –
Natur ohne Zwang, mit ursprünglicher Kraft.
Der Dampf meines Atems,
Waldwiderhall, Gerinnsel, surrendes Flüstern, Liebeswurz, Seidenfaden, Gabelstock und Rebe,
Mein Aus- und Einatmen, das Pochen meines Herzens, das Durchströmen von Blut und Luft durch meine Lungen,
Der schwache Geruch von grünem und trocknem Laub, vom Ufer, von den dunkelfarbigen Seefelsen und vom Heu in der Scheune,
Meiner Stimme ausgestoßene Laute an die Windwirbel weitergegeben,
Ein leises Küssen und Umarmen,
Das Spiel von Sonnenschein und Schatten wo die biegsamen Äste schaukeln,
Das Entzücken, allein, oder im Gedränge der Straßen, oder an Feldern und Hügeln entlang,
Das Gefühl von Gesundheit, der Mittagstriller, mein Gesang, wenn ich mich vom Lager erhebe, der Sonne entgegen!
Hast du tausend Acker für viel gehalten? Hast du die Erde für viel gehalten?
Hast du so lange das Lesen gelernt?
Hast du dir etwas darauf eingebildet, den Sinn von Gedichten zu verstehen?
[40] Bleibe nur diesen Tag und diese Nacht bei mir, und du sollst den Ursprung aller Gedichte erfassen!
Du sollst das Gut der Erde und der Sonne haben, (Millionen von Sonnen sind noch übrig)
Du sollst die Dinge nicht mehr aus zweiter oder dritter Hand nehmen, auch nicht durch die Augen der Toten sehen, und dich nicht nähren von den Gespenstern in Büchern;
Du sollst auch nicht mit meinen Augen sehen, noch die Dinge von mir empfangen,
Du sollst horchen nach allen Seiten und sie alle durch dich selbst filtrieren!
Auf das Beste hinweisend und es vom Schlechtesten trennend, quälte sich Zeitalter um Zeitalter,
Ich aber kenne die vollkommene Schicklichkeit und Gelassenheit der Dinge, schweige, während andere diskutieren, gehe baden und bewundere mich selbst.
Ich bin zufrieden, ich schaue, tanze, lache, singe;
Wie die umarmende und liebende Bettgenossin die Nacht durch an meiner Seite schläft, und sich bei Tagesanbruch verstohlenen Schrittes entfernt ...
Plappernde und Fragende umgeben mich;
Leute, denen ich begegne, die Nachwirkung aus meinem frühern Leben, oder von dem Stadt-Bezirk, in dem ich wohne, oder von dem Volkstum,
Die neuesten Ereignisse, Entdeckungen, Erfindungen, Gesellschaften, Autoren, alte und neue,
[42] Mein Mittagsessen, meine Kleidung, Genossen, Aussehen, Komplimente, Gebühren,
Die wirkliche oder eingebildete Gleichgültigkeit eines Mannes oder Weibes, die ich liebe,
Die Erkrankung eines meiner Verwandten, oder meiner selbst; Fehlschläge oder Verlust oder Mangel an Geld; Niedergeschlagenheit oder Überschwang,
Schlachten, die Greuel des Bruderkrieges, das Fieber zweifelhafter Nachrichten, wechselnde Zufälle,
Diese kommen zu mir bei Tag und Nacht – und gehen wieder,
Aber mein eigentliches Ich sind sie nicht.
Hinter mir liegen die Tage, da ich, schwitzend im Nebel, mit Sprachgelehrten und Streitenden mich ereiferte,
Ich spotte und streite jetzt nicht, ich bin Zeuge und warte.
Laß dich mit mir nieder auf dem Grase und löse den Verschluß deiner Kehle,
[43] Nicht Worte, nicht Musik, noch Reime brauche ich, keine Herkömmlichkeit, keine Vorlesung, auch nicht die beste,
Bloß das Lullen lieb' ich, das Summen deiner Stimmbänder!
Alsbald stieg empor und verbreitete sich um mich her der Friede und das Wissen, das über alle Beweisgründe der Welt hinausgeht,
Und ich weiß, daß die Hand Gottes die Versicherung der meinigen ist,
Und ich weiß, daß der Geist Gottes der Bruder des meinigen ist,
Und daß alle Männer, die je geboren, auch meine Brüder sind, und alle Frauen meine Schwestern und Geliebten ...
Ich gehe über den Tod mit dem Sterbenden hinaus und über die Geburt mit dem eben gebadeten Neugeborenen, und befinde mich nicht zwischen meinem Hut und meinen Stiefeln,
Und ich erforsche mannigfaltige Dinge, nicht zwei einander gleich, und ein jegliches gut,
Die Erde gut und die Sterne gut und alles Dazugehörige gut.
Das Kleine schläft in seiner Wiege,
Ich lüfte das Flortuch und blicke eine Weile hin, und verscheuche schweigend mit der Hand die Fliegen.
Das Geplapper auf dem Straßenpflaster, die Radspuren der Wagen, Straßenschmutz der Stiefelsohlen, Gespräche der Spaziergänger,
Der schwere Omnibus, der Kutscher mit seinem fragenden Daumen, das Geklirr der beschlagenen Pferde auf dem Granitboden,
Die Schneeschlitten, Geklingel, scherzende Zurufe, das Schneeballwerfen,
Das Hochrufen für die Lieblinge der Menge, die Wut des Pöbels,
Das Flappen der Vorhänge einer Sänfte, darin ein Kranker nach dem Spital getragen wird,
Das Zusammentreffen von Feinden, der plötzliche Fluch, die Hiebe, das Hinfallen,
[46] Das aufgeregte Gedränge, der Schutzmann mit seinem Abzeichen, der sich eilig seinen Weg nach der Mitte der Menge bahnt,
Die fühllosen Steine, die so manches Echo empfangen und wieder zurückgeben.
Welch ein Stöhnen der Überfütterten oder Halbverhungerten, die vom Sonnenstich getroffen oder in Krämpfen umfallen!
Welche Schreie der Weiber, die es unerwartet überkommt, daß sie nach Hause eilen und Kinder gebären,
Welch lebendig begrabene Sprache bebt hier immerfort, welch ein Geheul – vom Anstand niedergehalten,
Verhaftungen von Verbrechern, Beleidigungen, ehebrecherische Anträge, Annahmen, Zurückweisungen mit aufgeworfenen Lippen –
Ich achte auf sie, auf ihren Schein oder Widerhall – ich komme und gehe.
Ich sah die Vermählung des Pelzjägers, unter freiem Himmel im fernen Westen, die Braut war eine Rote,
Ihr Vater und seine Freunde saßen umher und rauchten schweigend, Mokassins an den Füßen, und von ihren Schultern hingen weite, dicke Wolldecken herab;
Auf einem Hügelhang streckte sich der Trapper, fast ganz in Pelz gekleidet, sein üppiger Bart und seine Locken schirmten den Hals, er hielt seine Braut bei der Hand,
[48] Sie hatte lange Augenwimpern, ihr Haupt war entblößt und ihr grobes, schlichtes Haar fiel über ihre wollüstigen Glieder und reichte ihr bis auf die Füße.
Der entlaufene Sklave kam an mein Haus und hielt draußen an,
Ich hörte seine Bewegungen an dem Knacken des Reisighaufens,
Durch die offene Halbtür der Küche sah ich ihn, matt und kraftlos,
Und ich ging hin wo er auf dem Holzklotz saß, führte ihn hinein und ermunterte ihn,
Schaffte Wasser herbei und füllte eine Wanne für seinen schweißigen Leib und seine wunden Füße;
Ich gab ihm eine Stube, die nach der meinen sich öffnete, und gab ihm einige grobe, reine Kleidungsstücke,
Ich erinnere mich ganz gut seiner rollenden Augen und seiner Unbeholfenheit,
Wie ich Pflaster auf die Blasen seines Halses und seiner Fußknöchel legte;
Eine Woche blieb er bei mir, bis er hergestellt war und nordwärts weiterzog,
Ich hatte ihn neben mir bei Tische sitzen – meine Flinte lehnte in der Ecke.
Die Männer schwimmen auf dem Rücken, ihre weißen Bäuche wölben sich unterm Sonnenlicht, sie fragen nicht, wer sie heimlich festhält,
Sie wissen nicht, wer so keucht und sich vorbeugt in geschmeidiger Wölbung der Glieder,
Sie ahnen nicht, wen sie mit Wasserstrahlen bespritzen. –
Der Neger hält die Zügel seines Viergespanns fest, der Klotz schaukelt unten an der übergebundenen Kette,
Der Neger, der den langen Lastwagen des Steinbruches fährt, so sicher und hochgewachsen steht er da, mit einem Bein sich stützend auf den Holm,
Sein blaues Hemd läßt den starken Hals und die Brust frei und hängt lose über seinem Hüftgurt,
Sein Blick ist gelassen und gebieterisch, er schlägt die Hutkrämpe aus dem Gesicht zurück,
Das Sonnenlicht fällt auf sein Kraushaar und den Schnurrbart, auf das Schwarz seiner glänzenden, schönen Glieder.
Ich bin der Liebkosende des Lebens, wo immer es sich regt, vorwärts sowohl wie rückwärts mich wendend,
Nach Seitennischen, entlegen und neuentdeckt, keine Person, keinen Gegenstand übersehend,
Alles in mich aufnehmend, für diesen Gesang.
Ochsen, die ihr mit dem Joch und der Kette rasselt oder unter schattigem Blätterdach haltet, was ist es, das ihr in euren Augen ausdrückt?
[51] Es scheint mir weit mehr als alles Gedruckte, das ich in meinem Leben gelesen.
Ich bin in das Leben im Freien verliebt,
In Männer, die unter dem Vieh leben oder den Geruch des Meeres oder des Waldes an sich haben,
In Schiffszimmerleute und Steuerleute und in die, welche Äxte und Schlegel schwingen und Pferde lenken,
Ich kann mit ihnen essen und schlafen, Woche für Woche.
Ich bin alt und jung, närrisch und weise,
Unbekümmert um andere, stets um andere besorgt,
Mütterlich so gut wie väterlich, ein Kind so gut wie ein Mann,
Voll von dem Stoff der grob ist und voll von dem Stoff der fein ist,
Einer aus der Nation der vielen Nationen, die kleinste gleich der größten,
Ein Südländer ebenso wie ein Nordländer, ein Pflanzer, gemütlich und gastfrei, wohne ich unten am Oconee,
Ein Yankee auf seinem Wege zum Handel ausgerüstet, meine Gelenke die beweglichsten und sehnigsten auf der Erde,
Ein Kentuckymann, das Elkhorntal in Rehfellgamaschen durchstreifend, ein Louisianer oder Georgier,
Ein Bootführer auf den Seen oder Buchten, oder an den Küsten des Meeres, ein Hoosier, Badger oder Buckeye,
Zu Hause in kanadischen Schneeschuhen, oder draußen im Busch, oder mit Fischern bei Neufundland,
Zu Hause auf der Flotte der Eisboote, mit den andern segelnd und kreuzend,
[53] Zu Hause auf den Vermontbergen, in den Wäldern von Maine, oder auf einer Farm in Texas,
Kamerad der Kalifornier, Kamerad der freien Nordwestbewohner (ihre großen Gestalten liebe ich),
Kamerad der Flößer und Kohlenträger, Kamerad aller, die einem die Hand schütteln und zu Trank und Speise willkommen heißen,
Ein Lernender mit dem Einfältigsten, ein Lehrer der Gedankenvollsten,
Ein Neuling und Anfänger, doch erfahren in Myriaden von Jahren,
Von jeder Farbe und jedem Stande bin ich, von jedem Rang und jeder Religion,
Ein Bauer, Handwerker, Künstler, Edelmann, Matrose, Quäker,
Gefangener, Zierbengel, Raufbold, Rechtsanwalt, Arzt, Priester.
Dies sind wirklich die Gedanken aller Menschen aller Zeitalter und Länder, sie kamen nicht ursprünglich von mir,
Sind sie nicht die deinen ebensoviel wie die meinen, so sind sie nichts oder fast nichts,
Sind sie nicht das Rätsel und die Lösung des Rätsels, so sind sie nichts,
Sind sie nicht ebenso nah wie fern, so sind sie nichts.
Hast du gehört, es sei gut den Sieg zu gewinnen?
Ich sage, es ist auch gut zu fallen, Schlachten können verloren werden in demselben Geiste wie gewonnen.
Vermutest du, ich hätte einen tiefen Vorsatz?
Nun ja, ich habe einen, denn die Aprilschauer haben einen, und der Glimmer an einer Felswand hat einen.
Meinst du, ich möchte Erstaunen erregen?
Erregt denn das Tageslicht Erstaunen? oder der frühmuntere Rotschwanz, der durch die Wälder zwitschert?
Errege ich mehr Erstaunen als diese?
Winseln und Zukreuzekriechen mischt in die Pulver für Bettlägerige, die Anpassung ist für die Vettern vierten Grades,
Ich trage meinen Hut wie's mir gefällt, drinnen und draußen.
Warum muß ich beten, warum verehren und zeremoniell sein?
Da ich die Gesteinschichten durchforscht, auf ein Haar analysiert, Gelehrte zu Rate gezogen und genau berechnet habe,
So finde ich doch kein süßeres Fett als an meinen eigenen Knochen klebt!
[57] Ich weiß, daß ich totlos bin,
Ich weiß, meine Kreisbahn kann nicht von eines Zimmermanns Zirkel umspannt werden,
Ich weiß, daß ich nicht verlöschen werde wie eines Kindes Feuerreif, der nachts mit glühendem Stock durch die Luft geschlagen wird.
Ich weiß, daß ich erhaben bin,
Ich quäle meinen Geist nicht, sich selbst zu rechtfertigen oder verstanden zu werden,
Ich sehe, daß die Urgesetze sich niemals entschuldigen!
(Ich glaube, ich betrage mich am Ende nicht hochmütiger als die Wasserwage, nach der ich den Grund meines Hauses anlege.)
Du Meer! auch dir ergebe ich mich – ich errate was du sagen willst,
Ich sehe vom Gestade deine gekrümmten, lockenden Finger,
Ich glaube, du weigerst dich zurückzufluten ohne mich berührt zu haben.
Wir müssen zusammen ein Spiel machen, ich entkleide mich; führe mich rasch fort, außer Sicht vom Lande,
Bette mich weich, wiege mich in welligen Schlummer,
Überschütte mich mit lüsternem Naß – ich kann dir's vergelten.
[61] Was sich in der Vergangenheit tüchtig gezeigt hat und sich noch tüchtig zeigt, ist kein solches Wunder,
Ein ewiges Wunder ist nur, daß es einen gemeinen Menschen geben kann, oder einen Ungläubigen.
Ich spreche das uralte Losungswort, ich gebe das Zeichen der Demokratie,
Bei Gott! ich will nichts annehmen, das jedem Andern nicht unter gleichen Bedingungen zuteil werden kann.
Durch mich manch' lang verstummte Stimmen,
Stimmen jener endlosen Geschlechter von Gefangenen und Sklaven,
Stimmen der Kranken und Verzweifelnden, von Dieben und Zwergen,
Stimmen von Kreisläufen der Vorbereitung und des Wachstums,
Stimmen der Fäden, welche die Sterne miteinander verbinden, und der Mutterschaft und des Zeugungsstoffs,
Und der Rechte derjenigen, über die andere herfallen,
[63] Der Mißgestalteten, Albernen, Flachen, Närrischen, Verachteten,
Des Nebels in der Luft, der Käfer, die Bällchen aus Dünger hinwälzen.
Wenn ich ein Ding mehr verehre als ein anderes, so soll es die Entfaltung meines eigenen Körpers sein, oder irgend ein Stück desselben.
Durchsichtige Gestalt, du sollst es sein!
Schattige Ränder und Stufen, ihr sollt es sein!
Männlicher junger Hengst, du sollst es sein!
Was immer mir zum Wohl gereicht, das soll es sein!
[64] Du mein reiches Blut! Du milchweißer Strom, bleicher Auszug meines Lebens,
Brust, die sich an andere Brüste drückt, du sollst es sein,
Mein Gehirn, es sollen deine geheimen Windungen sein,
Wurzel des wasserbespülten Kalmus, scheue Teichschnepfe, Nest der behüteten Doppeleier, ihr sollt es sein!
Gemischtes, wirres Heu des Kopfes, des Bartes, der Brust, ihr sollt es sein!
Triefender Saft des Ahorns, Faser des kräftigen Weizens, ihr sollt es sein!
Sonne, du Großmütige, du sollst es sein!
Dämpfe, die mein Gesicht beleuchten und beschatten, ihr sollt es sein!
Schweißperlender Bach und Morgentau, ihr sollt es sein!
Ihr Winde, deren sanft kitzelnde Genitalien mich streicheln, ihr sollt es sein!
Breite, muskelschwellende Felder, Äste der Steineiche, die auf meinen gewundenen Pfaden liebevoll ruhen, ihr sollt es sein!
Hände, die ich gedrückt, Lippen, die ich geküßt, Sterbliche, die ich je berührt, ihr sollt es sein!
Ich bin in mich selbst verliebt; hier ist mein alles, und alles so köstlich,
Ein jeder Augenblick und alles was geschieht, durchzuckt mich mit Freude,
Ich kann nicht sagen, wie meine Fußknöchel sich biegen, oder woher der Ursprung meines leisesten Wunsches,
Oder den Grund der Freundschaft, die von mir ausströmt, oder den der Freundschaft, die ich empfange.
[65] Wenn ich die Stufen meiner Haustür hinaufgehe, halte ich an, um nachzusinnen, ob es Wirklichkeit sei,
Eine Winde an meinem Fenster befriedigt mich mehr als die Metaphysik der Bücher.
Sprossen der sich weiter bewegenden Welt, still erheben sie sich mit unschuldigem Frohlocken, frisch strahlen sie hervor,
Schräge schießen sie dahin, hoch und tief.
Mein höchstes Verdienst verweigere ich dir, ich weigere mich, das wiederzugeben, was ich wirklich bin.
Umfasse Welten, aber suche nicht mich zu umfassen,
Ich setze dich schon in Verlegenheit, wenn ich nur nach dir hinblicke.
Ich höre Jubellieder der Vögel, das Knistern des wachsenden Weizens, Geplapper von Flammen, Reiser knacken während sie mein Mahl kochen,
Ich höre den Ton, den ich liebe, den Ton der menschlichen Stimme,
Ich höre alle Töne ineinanderfließen, verschmolzen oder nacheinander,
Töne der Stadt und Töne außerhalb der Stadt, Töne des Tags und der Nacht,
Junge Leute, plaudernd mit Denen, die sie lieben, das laute Lachen von Arbeitern bei ihrer Mahlzeit,
Den zornigen Baßton zerstörter Freundschaft, die schwachen Laute der Kranken,
Den Richter, mit den Händen fest am Pulte, während seine blutleeren Lippen ein Todesurteil sprechen,
Das Hoiho! der Packer, welche die Schiffe an den Werften ausladen, den Kehrreim der Matrosen, die den Anker lichten,
Das Läuten der Sturmglocken, den Feuerruf, das Rasseln heranstürmender Feuerspritzen und Schlauchwagen, mit warnendem Geklingel und farbigen Lichtern,
Die Dampfpfeife, das dumpfe Rollen des nahenden Eisenbahnzuges,
[68] Den Trauermarsch, an der Spitze des Vereins gespielt – zu zwei und zwei gehen sie dahin,
(Sie geben einer Leiche das Geleite, die Fahnenspitzen sind mit Flor umwunden).
Ich höre die Sopranstimme (welch eine Wirkung geht von ihr aus!),
Das Orchester wirbelt mich weiter als Uranus fliegt,
Es entlockt mir solche Wärme des Gefühls, ich wußte nicht, daß ich sie besaß,
Es trägt mich wie auf Wellen, ich platsche mit bloßen Füßen, sie werden von den lässigen Wellen beleckt,
Ich werde vom scharfen, zornigen Hagel geritzt, der Atem geht mir aus,
Ich werde in honigsüßen Morphin getaucht, meine Kehle wird mit Schlingen des Todes zugezogen,
Endlich wieder freigelassen, um das Rätsel aller Rätsel zu fühlen,
Und das nennen wir: Sein.
[69] Was bedeutet es denn, in irgend einer Form zu sein?
Wenn nichts sich weiter entwickelte, wäre die Seemuschel mit ihrer unempfindlichen Schale schon genug,
Meine Schale ist nicht unempfindlich!
Ich habe schnelle Stromleiter in mir, überall wo ich gehe und stehe,
Sie fassen jeden Gegenstand und leiten ihn ohne Schaden durch mich hindurch.
Ich brauche mich nur zu rühren, etwas zu drücken, mit den Fingern etwas anzufassen und ich bin glücklich,
Mit meinem Leib den eines andern zu berühren, ist schon soviel wie ich ertragen kann.
Ich meine, ich könnte mich den Tieren zugesellen und mit ihnen leben, sie sind so ruhig und selbständig,
Ich stehe und betrachte sie lange und lange.
Meine Fesseln und mein Ballast fallen von mir ab,
Meine Ellbogen ruhen in Meeresbuchten,
Ich überspringe Gebirge, meine Hände umspannen Weltteile,
Ich gehe mit meinem Traum.
Unter den viereckigen Häuserblocks der Stadt, – in Blockhütten mit Holzhändlern lagernd,
Entlang den Geleisen der Landstraße, an der trocknen Schlucht und am Bette des Flüßchens,
Ich jäte meine Zwiebelacker oder behacke die Reihen der Karotten und Pastinaken, die Savannen durchquere ich, auf der Fährte durch Urwälder,
Ich messe Land, grabe Gold, umschneide die Rinden der Bäume auf einem neuen Landbesitz,
[75] Vom heißen Sande verbrannt bis auf die Fußknöchel, indem ich mein Boot den flachen Fluß hinabschleppe,
Wo der Panther auf dem Ast mir zu Häupten hin- und hergeht, wo der Rehbock wütend den Jäger angeht,
Wo die Klapperschlange ihre schlaffe Länge auf einem Felsen sonnt, wo der Otter Fische frißt,
Wo der Alligator in seinem zähen Warzenpanzer am Abfluß des Sees schläft,
Wo der schwarze Bär nach Wurzeln oder Honig sucht, wo der Biber den Schlamm mit seinem ruderförmigen Schwanz aufwühlt,
Über sprossendes Zuckerrohr, über die gelbblütige Baumwollenstaude, über den Reis in seinem feuchten Felde,
Über den spitzgiebeligen Bauernhof, mit seiner ausgezackten Dachrinne und den schlanken Wasserstrahlen der Traufe,
Über die Dattelpflaumen des Westens, über den langblätterigen Mais, über den zierlichen blaublumigen Flachs,
Über den weißen und braunen Buchweizen, ein Brummer und Summer da mit den andern,
Über das dämmerige Grün des Roggens, wie er in dunkleren Wellen im Winde wogt,
Berge erkletternd, ziehe mich vorsichtig hinauf, an niedrigen rauhen Ästen mich haltend,
Verfolge den ausgetretenen Pfad im Grase und durchdringe das Dickicht,
Wo die Wachtel schlägt, zwischen dem Wald und dem Weizenacker,
Wo die Fledermaus am Abend des siebenten Monats umherflattert, wo der große Goldkäfer durch das Dunkel niederstürzt,
[76] Wo das Bächlein aus den Wurzeln des alten Baumes sickert und nach der Wiese fließt,
Wo das Vieh steht und sich mit zitternder Bewegung der Haut die Fliegen abschüttelt,
Wo das Käsetuch in der Küche hängt, wo Feuerböcke spreizbeinig überm Herdstein stehen, wo Spinngewebe wie Pflanzengewinde von den Balken hängen,
Wo die Hüttenhämmer krachen, wo die Druckerpresse ihre Zylinder wirbelt,
Überall wo das Menschenherz mit furchtbaren Krämpfen unter den Rippen schlägt,
Wo der birnenförmige Ballon hochoben schwebt, (ich selber schwebe darin und schaue gelassen hinab)
Wo der Rettungskarren an der Schleife gezogen wird, wo die Hitze hellgrüne Eier im Sand ausbrütet,
Wo das Walfischweibchen mit seinem Kalbe schwimmt und es nie verläßt,
Wo das Dampfschiff seinen langen Rauchwimpel hinter sich zieht,
Wo die Rückenflosse des Haifisches wie ein schwarzer Span aus dem Wasser schneidet,
Wo die halbverbrannte Brigg auf unbekannter Strömung dahin treibt,
Wo Muscheln sich am schlüpfrigen Deck ansetzen, wo unten im Raum die Toten verwesen,
Wo die sternbesäte Fahne an der Spitze des Regiments getragen wird;
Manhattan nahend auf der langgestreckten Insel,
Unter Niagara, während der Wasserfall wie ein Schleier über mein Gesicht fällt,
[77] Auf einer Haustreppe, draußen auf dem Aufsteigeblock von hartem Holz,
Auf der Rennbahn, oder an Picknicks und Tänzen im Freien ergötze ich mich, oder an einem guten Ballspiel,
In Männergesellschaften mit rohen Scherzen, ironischer Ausgelassenheit, Bulltänzen, Saufen, Gelächter,
Bei der Apfelweinpresse, die Süße des braunen Breis kostend, sauge ich den Saft durch einen Strohhalm,
Küsse verlange ich beim Apfelschälen für alle roten Früchte, die ich finde.
Bei Musterungen, Strandpartien, freundnachbarlichen Hilfsvereinen, beim Abhülsen des Maises, beim Richtfest,
Wo die Spottdrossel ihre köstlichen Wirbel schmettert, gackert, schreit und schluchzt,
Wenn der Heufeimen im Scheunenhof steht, wo die dürren Halme umherliegen, wo die Zuchtkuh im Schuppen wartet,
Wo der Stier vortritt, um sein männliches Werk zu verrichten, wo der Hengst bei der Stute, wo der Hahn die Henne tritt, da freue ich mich,
Wo die Jungkuh weidet, wo die Gänse ihr Futter mit kurzen Schnabelstößen aufschaufeln,
Wo die Abendschatten sich verlängern über der grenzenlosen und einsamen Prärie,
Wo die Büffelherden eine kriechende Decke bilden über Quadratmeilen nah und fern,
Wo der Kolibri schimmert, wo der Hals des langlebigen Schwanes sich biegt und windet,
Wo die Lachmöwe am Seegestade schweift und lacht ihr menschliches Lachen,
[78] Wo die Bienenkörbe in der Reihe auf einer grauen Holzbank im Garten stehen, halb verborgen im hohen Unkraut,
Wo die Halsband-Rebhühner im Kreise auf dem Boden schlafen, alle mit den Köpfen nach auswärts,
Wo die Leichenwagen durch das Bogentor des Friedhofs fahren;
Wo die Wölfe im Winter bellen in Einöden von Schnee, wo die Bäume mit Eiszapfen behangen,
Wo der Reiher mit gelber Krone nachts an den Rand des Sumpfes kommt, um kleine Krebse zu fressen,
Wo das Plätschern der Schwimmer und Tauchenden die heiße Mittagstunde kühlt,
Wo die Zikade ihre chromatische Rohrpfeife übt auf dem Wallnußbaum über dem Brunnen.
Ich komme durch kleine Anpflanzungen von Zitronen und Gurken mit silberdrahtgeäderten Blättern,
Durch die Salzlecke oder das Orangen-Tal, oder unter spitzwipfligen Fichten,
In die Turnhalle, in den mit Vorhängen geschmückten Saal, in das Bureau oder die öffentliche Halle,
Erfreut über das Einheimische, erfreut über das Fremde, froh über Neues und Altes,
Freue mich über das häusliche Weib wie über das schöne,
Über die Quäkerin, wie sie ihre Haube ablegt und melodisch spricht,
Freue mich über das Lied des Chors in der weißgetünchten Kirche,
Über die eifrigen Worte des schwitzenden Methodistenpredigers, ernst ergriffen beim Feldgottesdienst;
Ich schaue in die Ladenfenster am Broadway den ganzen Vormittag, das Fleisch meiner Nase am dicken Spiegelglas platt drückend,
[79] Schlendere denselben Nachmittag, mit dem Gesicht zu den Wolken gewendet, einen Feldweg hinab, oder am Strande entlang,
Meine Arme rechts und links um die Seite zweier Freunde, ich in der Mitte,
Komme nach Hause mit dem schweigsamen dunkelwangigen Waldknaben (er reitet hinter mir in der Dämmerung);
Fern von den Ansiedelungen folg' ich der Fährte des Wildes oder der Mokassinspur;
Am Lager, im Spital, einem Fieberkranken Limonade reichend,
Bei der eingesargten Leiche, wenn alles still geworden, mit einer Kerze untersuchend.
Ich segle nach jeder Seestadt, um zu tauschen und zu wagen,
Hastig mit dem modernen Pöbel, so gierig und wankelmütig wie nur einer ...
Ich gehe auf Jagd nach Polarpelzen und Seehunden, ich springe über Eisspalten mit einem eisenbeschlagenen Stock, klammere mich an die blauen zerbrechlichen Zacken.
[80] Ich steige auf das Vorkastell,
Ich nehme meinen Platz spät des Nachts im Krähennest,
Wir segeln im Nordpolarmeer, es ist reichlich hell genug,
Durch die klare Luft sehe ich ringsum wunderbare Schönheit,
Die riesigen Eismassen schwimmen an mir vorüber, die Gegend nach allen Richtungen deutlich sicht bar,
Die weißspitzigen Berge zeigen sich in der Ferne, ich sende ihnen meine Phantasien zu,
Wir nähern uns einem großen Schlachtfelde, wo wir bald mitkämpfen müssen,
Wir passieren die riesigen Vorposten des Lagers, mit stillen Schritten und mit Vorsicht gehen wir vorbei,
Oder wir ziehen durch die Vororte in eine zertrümmerte Stadt,
Diese Blöcke und die verfallene Architektur sind mehr als alle lebenden Städte des Erdballs!
Ich begreife die großen Herzen der Helden,
Die Tapferkeit der Gegenwart und aller Zeiten,
[81] Wie der Schiffskapitän das steuerlose Wrack des Dampfers sah, wimmelnd von Menschen, das der Tod auf- und niederjagte durch den Sturm,
Wie er die Fäuste zusammen preßte und nicht einen Zoll breit wich, und treu blieb bei Tag und Nacht,
Und mit Kreide große Buchstaben auf ein Brett schrieb: »Seid guten Muts, wir verlassen euch nicht!«
Wie er ihnen folgte und drei Tage lavierte und nicht nachließ,
Wie er endlich die Umhertreibenden rettete,
Die erschöpften Weiber in schlaff hängenden Kleidern, als man sie vom Rande ihrer offenen Gräber herübergeholt,
Die stummen Kinder mit gealterten Zügen, die aufgerichteten Kranken und die scharflippigen, unrasierten Männer;
Das alles nehme ich in mich auf, es schmeckt mir gut, ich genieße es, es tut mir wohl,
Ich bin es selbst, ich litt, ich war dabei.
Ich bin der gehetzte Sklave, ich krümme mich unter den Bissen der Hunde,
Hölle und Verzweiflung sind über mich gekommen, es knallen und knallen die Schützen,
Ich klammere mich an die Pfähle des Zaunes, mein Blut rinnt, verdünnt durch den Schweiß meiner Haut,
Ich fühle Stiche, die wie Nadeln mir Hals und Beine treffen, die mörderischen Rehposten und Kugeln,
Ich falle auf Unkraut und Steine,
Die Reiter spornen ihre sträubenden Rosse, reißen sie dicht an mich heran,
Schreien mir Hohn in meine schwindelnden Ohren und schlagen mich wütend mit Peitschenstöcken auf den Kopf.
Unser Feind war keine Memme in seinem Schiff, sage ich dir (so erzählt' er);
Sein war die harte englische Standhaftigkeit, es gibt keine zähere und treuere, hat es nie gegeben und wird es nie geben.
Mit dem sinkenden Abendnebel kam er heran und gab uns eine furchtbare Breitseite;
Wir legten uns an ihn, die Rahen verwickelten sich, die Kanonen stießen aneinander,
Mein Kapitän band mit eigenen Händen fest.
[84] Wir hatten einige Achtzehnpfünder-Kugeln unter Wasser bekommen,
Auf unserm untersten Kanonendeck waren zwei große Geschütze beim ersten Feuern geplatzt, alle umher tötend und nach oben alles zersprengend.
Kämpfen bei Sonnenuntergang, kämpfen im Finstern,
Zehn Uhr nachts, der Vollmond aufgegangen, unsere Lecke im Zunehmen und fünf Fuß Wasser gemeldet;
Der Befehlshaber entläßt die im Hinterraum eingeschlossenen Gefangenen, um ihnen Gelegenheit zur eigenen Rettung zu geben.
Bloß drei Geschütze sind brauchbar,
Eins wird vom Kapitän selbst gegen des Feindes Hauptmast gerichtet,
Zwei, wohl bedient mit Kartätschen und Traubenschuß, bringen sein Musketenfeuer zum Schweigen und räumen sein Deck.
Gegen Mitternacht, dort unter den Strahlen des Mondes, ergibt sich der Feind.
Weit und still liegt die Mitternacht,
Zwei große Rümpfe, bewegungslos im Schoße der Finsternis,
Unser Schiff durchsiebt und langsam sinkend, Vorbereitungen, um auf das eroberte zu gehen,
Der Kapitän auf dem Hinterdeck, kalt seine Befehle erteilend, mit einem Antlitz weiß wie ein Tuch,
Dicht dabei die Leiche eines Kindes, das in der Kajüte gedient,
Das tote Gesicht eines alten Seebären mit langen, weißen Haaren und sorgfältig gekräuseltem Backenbart,
Die heiseren Stimmen der wenigen Offiziere, die noch dienstfähig sind,
Formlose Leichenhaufen und einzelne Körper, Fleischfetzen auf Masten und Rahen,
Durchschnittene Taue, baumelndes Takelwerk, leichte Stöße der liebkosenden Wellen,
[86] Schwarze gefühllose Geschütze, wenige große Sterne droben, schweigend und traurig,
Zarte Düfte der Seeluft, Aufträge der Sterbenden, den Überlebenden anvertraut,
Gezisch des Wundmessers, die kratzenden Zähne der Knochensäge,
Schnaufen, glucksen, Blutgeriesel, kurzer wilder Aufschrei und langes, dumpf verhallendes Stöhnen ...
Nicht ein Meuterer wandelt mit Handschellen gefesselt ins Gefängnis, ohne daß ich mit Handschellen an ihn gefesselt bin und mit ihm gehe,
(Dort bin ich weniger der lustige Kerl und mehr der Schweigsame, mit Schweiß auf meinen zuckenden Lippen),
Nicht ein Knabe wird wegen Diebstahls verhaftet, ohne daß ich vor Gericht mit ihm verhört und verurteilt werde.
[88] Sein Benehmen so unbekümmert wie Schneeflocken, Worte einfach wie Gras, ungekämmter Kopf, Lachen und Naivität,
Langsam schreitender Fuß, gewöhnliche Gesichtszüge, gewöhnliche Formen und Äußerungen,
Sie gleiten in neuen Formen aus seinen Fingerspitzen,
Sie wehen umher, mit dem Duft seines Körpers und Atems, sie entfliegen dem Blick seiner Augen.
Zeugungsfähigen Frauen mache ich stärkere und flinkere Kinder, (Heute verspritze ich den Stoff zu weit übermütigeren Freistaaten!)
Dies ist die Stadt und ich bin einer der Bürger,
Was die andern interessiert, das interessiert auch mich, Politik, Kriege, Märkte, Zeitungen, Schulen,
Der Bürgermeister und die Räte, Banken, Tarife, Dampfschiffe, Fabriken, Aktien, Kaufläden, Grundeigentum und persönliches Eigentum.
Keine Worte der Routine, dies mein Lied,
Sondern jählings Fragen aufzuwerfen, darüber hinaus zu springen und doch näher zu bringen;
Dies gedruckte und gebundene Buch – aber der Drucker und der Laufbursche der Druckerei? wie steht's um die?
Die wohlgetroffenen Photographien – aber deine Frau oder dein Freund, dicht und fest in deinen Armen?
Das schwarze Schiff mit Eisen gepanzert, seine mächtigen Geschütze in den Türmen – aber der Mut des Kapitäns und der Maschinisten?
Schüsseln und Speisen und Möbel in den Häusern – aber der Wirt und die Wirtin und der Blick aus ihren Augen?
[91] Der Himmel dort oben – aber hier nebenan, oder gegenüber?
Die Heiligen und Weisen der Geschichte – und du selbst?
Predigten, Glaubensbekenntnisse, Theologie – aber das unergründliche menschliche Gehirn?
Was ist Vernunft? was Liebe? und was ist Leben?
Ich verachte euch nicht, Priester aller Zeiten auf der ganzen Welt,
Mein Glaube ist der größte von allen und der geringste von allen,
Einschließend den ältesten Kultus und den neuesten, und jeden zwischen dem ältesten und dem neuesten,
Ich glaube, daß ich nach fünftausend Jahren wieder auf der Erde erscheinen werde,
Ich warte auf die Antworten der Orakel, verehre die Götter, grüße die Sonne,
Mache einen Fetisch aus dem ersten besten Felsen oder Baumstumpf,
Helfe dem Lama oder Brahmin die Lampen der Götzenbilder putzen,
Tanze durch die Straßen in einer Phallos-Prozession, bin verzückt, bin abgehärtet und streng in den Wäldern, ein Gymnosophist,
Trinke Met aus dem Hirnschädel-Becher, verehre die Shastas und Vedas, beachte den Koran,
Verstehe die Evangelien, verstehe Den, der gekreuzigt ward, und weiß gewiß, daß er göttlich ist,
Knie bei der Messe, stehe beim Gebet der Puritaner oder sitze geduldig im Kirchenstuhl,
[92] Tobe und schäume in der Krisis meines Wahnsinns, oder warte totähnlich, bis mich der Geist erweckt,
Gehöre zu denen, die den Kreis der Kreise weben,
Bin einer von jener centripetalen und centrifugalen Kolonne; ich wende mich um und rede wie einer, der vor einer Reise Aufträge hinterläßt.
Jedes Vorübergehenden wird gedacht, jedes Stillstehenden wird gedacht, keinen einzigen kann es je überschlagen.
Nicht der Jüngling ist verloren, der starb und begraben wurde,
Noch das junge Weib, das starb und ihm zur Seite gelegt wurde,
Nicht das kleine Kind, das eben durch die Tür hineinsah und sich dann zurückzog und nicht mehr gesehen ward,
Der Greis nicht, der ohne Zweck gelebt hat und es empfindet mit einer Bitterkeit schlimmer als Galle,
Noch der Armenhäusler, tuberkulös vom Schnaps und der liederlichen Krankheit,
Nicht die unzähligen Niedergemetzelten und Gescheiterten, noch der tierische Unflat, Auswurf der Menschheit genannt,
[93] Nicht die Säcke, die bloß mit offenem Maul dahinschwimmen, damit Speise hineinfließe,
Noch irgend was auf der Erde oder unten in den ältesten Gräbern der Erde,
Noch in den Myriaden von Sphären, noch die Myriaden und Abermyriaden, die sie bewohnen,
Nicht das Jetzt, noch der geringste Wisch, den man kennt.
Ich öffne des Nachts meine Dachluke und sehe die weit ausgestreuten Systeme,
Und alle, die ich sehe, multipliziert so hoch ich rechnen kann, grenzen bloß an den Rand der ferneren Systeme.
Es gibt keinen Stillstand und kann es niemals geben;
[95] Wenn ich, du und die Welten und alles, was unter oder auf ihrer Oberfläche ist, in diesem Augenblick wieder in eine bleiche Flut zurückverwandelt würden, so würde es auf die Länge nichts ausmachen,
Wir würden sicher da wieder heraufkommen, wo wir jetzt stehen,
Und sicher noch so viel weiter gehen, und dann wieder weiter und weiter.
Ein paar Quadrillionen von Zeitaltern, ein paar Oktillionen Quadratmeilen bringen die Spannweite nicht in Gefahr, noch macht es sie ungeduldig;
Sie sind nur Teile, jedwedes Ding ist nur ein Teil.
Ich weiß, daß ich das Beste des Raumes und der Zeit habe, und daß ich niemals gemessen wurde, noch je gemessen werde.
Ich wandere eine ewige Fußreise, (kommt alle und hört!)
Meine Abzeichen sind ein regendichter Rock, festes Schuhzeug und ein Wanderstab, im Walde geschnitten,
Keiner meiner Freunde ruht bequem bei mir im Sessel,
[96] Ich habe keinen Stuhl, keine Kirche, keine Philosophie,
Ich führe niemanden zu Tische, in die Bibliothek, auf die Börse,
Sondern jeden Mann und jedes Weib unter euch führe ich auf einen Hügel,
Meine linke Hand lege ich um euren Leib,
Meine rechte Hand zeigt auf Landschaften von Weltteilen und auf die offene Heerstraße.
Heute vor Tagesanbruch bestieg ich einen Berg und schaute in das Sternengewimmel,
Und sprach zu meiner Seele: Wenn wir alle diese Welten umfassen werden und die Freude und das Wissen von allem, was darin ist, werden wir dann ganz erfüllt und befriedigt sein?
[97] Und meine Seele sprach: Nein, wir ersteigen diese Höhe nur, um daran vorbei und weiter darüber hinaus zu kommen.
Lange hast du furchtsam gewatet und dich an einer Planke am Ufer festgehalten,
Nun will ich, daß du ein kühner Schwimmer werdest,
Abspringst mitten in der See, wieder auftauchst, mir zunickst, jauchzend und lachend das Wasser aus deinen Haaren schüttelst!
Ich habe gesagt, die Seele ist nicht mehr als der Leib,
Ich habe gesagt, der Körper ist nicht mehr als die Seele,
Und nichts, auch nicht Gott, ist größer als man selber ist,
Und wer eine Wegstunde ohne Mitgefühl wandelt, der wandelt zu seinem eigenen Begräbnis, gehüllt in sein Leichentuch,
Aber ich oder du, ohne einen Pfennig in der Tasche, können das Köstlichste der Erde kaufen.
[100] Mit dem Auge nur aufblicken oder eine Bohne in ihrer Hülse zeigen, stößt alle Gelehrsamkeit über den Haufen,
Und es gibt keinen Beruf und keine Beschäftigung, durch die der junge Mann, der sie betreibt, nicht zum Helden werden kann,
Es gibt keinen Gegenstand so zart, der nicht eine Radnabe für das kreisende Weltall abgäbe,
Und ich sage zu irgend einem Manne oder Weibe: Laß deine Seele kühl und gelassen vor einer Million von Welten stehen.
Weshalb sollte ich Gott mehr zu sehen begehren als am heutigen Tage?
Ich sehe etwas von Gott in jeder Stunde von den vierundzwanzig, und wieder in jedem Augenblick,
In den Gesichtern der Männer und Frauen, und in meinem eigenen Antlitz im Spiegel,
Ich finde Briefe von Gott, auf der Straße fallen gelassen, und jeden Brief mit Gottes Namen gezeichnet,
[101] Und ich lasse sie liegen, denn ich weiß, wohin ich auch gehe,
Werden immer und ewig andere pünktlich eintreffen.
Und Tod, was dich betrifft, du herbe Umarmung der Sterblichkeit, umsonst versuchst du mich zu erschrecken.
Und was dich betrifft, du Leiche, ich denke du gibst guten Dünger – doch anstößig find' ich das nicht.
Ich rieche die weißen Rosen, süß duftend und knospend,
Ich greife nach den Lippen des Laubes, ich greife nach der glatten Brust der Melonen.
Ich höre euch flüstern da oben, ihr Sterne des Himmels,
Ihr Sonnen, ihr Gräser des Grabes, o unaufhörlicher Übergang und Beförderung!
Wenn ihr nichts sagt, wie kann ich etwas sagen?
Von dem trüben Sumpf, der im herbstlichen Forste ruht,
Von dem Mond, der die Tiefen der säuselnden Dämmerung hinabgleitet,
[102] Sprühet, ihr Funken des Tags und der Dämmerung, flimmert auf den schwarzen Stämmen, die im Schlamme verfaulen,
Tanzt mit dem ächzenden Knarren der trockenen Äste!
Vielleicht könnte ich noch mehr sagen. O Andeutungen! Ich flehe für meine Brüder und Schwestern!
Seht ihr, o meine Bruder und Schwestern?
Es ist nicht Chaos oder Tod, es ist Form, Einheit, Bestimmung, ist ewiges Leben – ist Glückseligkeit!
Der gefleckte Falke stößt an mir vorüber und schilt mich, er beklagt sich über mein Plaudern und Zaudern,
[103] Ich bin aber doch nicht zahm, ich bin auch unübersetzbar,
Und lasse meinen barbarischen Raubvogelschrei ertönen über die Dächer der Welt!
Der Antwortgeber
Ich stehe vor dem Jüngling von Angesicht zu Angesicht, nehme seine rechte Hand in meine linke und seine linke in meine rechte,
Und antworte im Namen seines Bruders und der Menschheit, für den, der im Namen aller antwortet – und sende euch diese Zeichen.
Schöne Frauen, die hochmütigsten Nationen, Gesetze, die Landschaft, Völker, Tiere,
Die tiefe Erde mit ihren Schätzen, und der ruhelose Ozean, (so sing' ich meine Morgen-Romanze,)
Alle Vergnügungen und Besitztümer, Geld und alles, was man für Geld kaufen kann,
[106] Die besten Farmen – andere plagen sich und pflanzen, doch er erntet unfehlbar;
Die herrlichsten, reichsten Städte – andere ebnen und bauen, doch er bewohnt sie;
Nichts entsteht, das nicht für ihn wäre. Nah und Fern sind für ihn, die Schiffe draußen am Horizont,
Die bunten Schaustellungen und Umzüge auf dem Lande – alles für ihn.
Er bringt die Dinge in ihre richtige Stellung,
Er bringt das Heute aus sich heraus, mit bildsamer Kraft und Liebe,
Er stellt die Zeiten, Erinnerungen, Eltern, Geschwister, Beruf und Politik an ihren Platz, so daß die Nachfolgenden sie weder schmähen, noch sich anmaßen, über sie zu gebieten.
Er ist der Antwortgeber;
Was beantwortet werden kann, beantwortet er, und was sich nicht beantworten läßt, zeigt er, wieso es nicht beantwortet werden kann.
Ein Mann ist ein Befehl und eine Herausforderung!
Vergebens weichst du ihm aus. Hörst du das Gespött und Gelächter? Hörst du das höhnische Echo?
Bücher, Freundschaften, Philosophen, Priester, Tätigkeit, Stolz, Vergnügen, sie steigen und fallen und suchen Befriedigung zu gewähren;
Er bezeichnet die Befriedigung und auch die, welche steigen und fallen.
[107] Gleichviel welchen Geschlechts, in welcher Jahreszeit oder Gegend, mag er frohgemut, sanft und sicher dahinschreiten, tags oder nachts;
Er kennt den Schlüssel zum Herzen und heißt dich eintreten, wenn deine Hand leise die Klinke berührt.
Er ist allerseits willkommen – das Fluten der Schönheit ist nicht willkommener und allseitiger als er;
Wen er bei Tage auszeichnet, oder mit wem er nachts schläft, der ist gesegnet.
Jedes Dasein hat seine Sprache, jedes Ding seine Mundart.
Er löst alle Sprachen in seine eigene auf und wendet sie an auf die Menschen, und ein jeder überträgt sie und überträgt auch sich selbst;
Kein Teil widerspricht dem andern, er ist der Vereiniger, er sieht wie sich alle wieder vereinigen.
Er spricht ohne Unterschied im gleichen Ton zum Präsidenten bei der Abendgesellschaft: »Wie geht es Euch, Freund?«
Und zu Kunz, der auf der Zuckerplantage harkt: »Guten Tag, mein Bruder.«
Und beide verstehen ihn und wissen, daß er das Rechte spricht.
Er geht ganz unbefangen zum Kapitol
In die Kongreßversammlung, da sagt ein Abgeordneter zum andern: »Dort ist unser Ebenbürtiger eben erschienen.«
Dann halten ihn die Handwerker für einen Handwerker,
[108] Die Soldaten für einen Soldaten, und die Seeleute meinen, daß er schon als Seemann gefahren,
Die Autoren halten ihn für einen Autor, die Künstler für einen Künstler,
Und die Arbeiter fühlen, daß er mit ihnen arbeiten und sie lieben würde;
Einerlei welcher Art die Arbeit sei, daß er sie tun könnte, oder schon getan hat,
Welches Volk es sei, daß er in ihm seine Brüder und Schwestern fände.
Wen er zufällig ansieht in der Kaffeeschänke, der hält ihn für seinesgleichen:
Der Italiener oder Franzose, wie der Deutsche, der Spanier und der Cubaner,
Der Maschinist, der Deckmatrose auf den großen Binnenseen oder dem Mississippi, St. Lawrence, Sacramento oder Hudson, oder Paumanok-Sund: alle erheben Anspruch auf ihn.
Der Gentleman vom reinsten Blut erkennt in ihm das reinste Blut,
Der Raufbold, die Dirne, der Jähzornige, der Bettler erkennen sich wieder in ihm; er verwandelt sie wunderbar,
Sie sind nicht länger gemein, sie kennen sich selbst kaum wieder, so sind sie gewachsen.
Die Worte echter Dichtung geben weit mehr als Gedichte,
Sie geben dir Stoff zu gestalten, Gedichte, Religionen, Politik, Krieg, Frieden, Sitten, Geschichte, Abhandlungen, tägliches Leben und alles übrige,
Sie wägen Rangordnungen, Farben, Rassen, Glaubensbekenntnisse und die Geschlechter,
Sie suchen nicht Schönheit, sie werden gesucht,
[110] Für ewig folgt ihren Spuren die Schönheit, sehnsüchtig, verlangend, liebekrank;
Zum Tode bereiten sie vor, doch sind nicht das Ende, vielmehr der Anfang,
Sie führen keinen zum Abschluß, zur zufriedenen Erfüllung;
Wen sie forttragen, den tragen sie hinaus in den Weltraum, die Geburt der Sterne zu schauen, um eine der vielen Deutungen zu lernen,
Um mit vollem Vertrauen den Weg anzutreten durch die endlosen Ringe hindurch, und nimmer wieder zur Ruhe zu kommen.
[111] Aus »Kinder Adams«
[112]Wie Adam, früh am Morgen
[113] O Hochzeit, o Hochzeitstrieb!
[114] Ich leide vor Liebe
[115] In Äonen wiederkehrend
[116] Eine Stunde der Raserei und Freude!
Ich, ganz euch hingegeben, wer ihr auch seid, und ihr, mir hingegeben, einer Welt zum Trotz!
Zum Paradies zurück – Verschämte und Weibliche,
Euch zu mir zu ziehen, um euren Lippen zum erstenmal den Kuß eines entschlossenen Mannes aufzudrücken.
[117] Urgefühle
[118] Einst kam ich durch eine volkreiche Stadt
[119] Ein Weib wartet auf mich
Ohne Scham kennt und bekennt der Mann, wie ich ihn liebe, seines Geschlechtes Schönheit.
Ohne Scham kennt und bekennt das Weib, wie ich es liebe, seines Geschlechtes Schönheit.
Ich will mich jetzt von unempfänglichen Frauen zurückziehen,
Ich will bleiben bei der, die auf mich wartet, und bei denen, die warmblütig sind und für mich genügen,
Ich sehe, sie verstehen mich und versagen sich mir nicht;
Ich sehe, daß sie meiner würdig sind, ich will der rüstige Gatte dieser Frauen sein.
Sie sind nicht ein Jota geringer als ich;
[120] Ihr Gesicht ist gebräunt von Sonnenstrahlen und wehenden Winden,
Ihr Fleisch hat die alte göttliche Biegsamkeit und Stärke,
Sie können schwimmen, rudern, reiten, ringen, rennen, schlagen, angreifen, widerstehen und sich verteidigen,
Sie sind endgültig in ihrem eigenen Recht, ruhig, klar und selbstbeherrscht.
Durch euch entlaste ich die eingedämmten Ströme meines Ich,
In euch schließe ich tausend künftige Jahre,
Auf euch pfropfe ich die Keime der von mir und Amerika am meisten Geliebten,
Die Tropfen, die auf euch überfließen, müssen wilde, körperkräftige Mädchen, müssen Künstler und Sänger werden,
[121] Die aus euch gezeugten Kinder sollen selbst wieder Kinder zeugen,
Ich verlange vollkommene Männer und Frauen von meinen Liebesspenden,
Ich erwarte, daß sie sich gegenseitig durchdringen, wie ich euch jetzt durchdringe,
Ich rechne auf die Früchte ihrer ausströmenden Fülle, wie auf die Früchte meiner ausströmenden Fülle,
Ich werde ausschauen nach liebenden Ernten, von Geburt, Leben, Tod und Unsterblichkeit, die ich jetzt mit solcher Liebe in euch einpflanze.
[122] Ich singe den Leib, den elektrischen
Die Liebe zum Körper eines Mannes oder Weibes entzieht sich aller Rechenschaft, der Leib selber entzieht sich der Rechenschaft,
Der des Mannes ist vollkommen, und der des Weibes ist vollkommen.
Der Ausdruck des Gesichtes entzieht sich aller Rechenschaft,
Aber der Ausdruck eines wohlgestalteten Mannes tritt nicht in seinem Antlitz allein hervor,
Auch in seinen Gliedern und Gelenken, in den Gelenken seiner Hüften und Hände,
In seinem Gang, der Haltung des Halses, der Biegung seiner Lenden und Kniee; die Kleidung verbirgt ihn nicht,
Die starke, wohlige Eigenart, die er hat, durchdringt Kattun und Tuch,
Ihn vorbeigehen zu sehen, gibt so viel wie das beste Gedicht, vielleicht mehr,
[123] Man bleibt stehen, um seinen Rücken zu sehen, seinen Nacken und seine Schultern.
Das Spatteln der rundlichen Säuglinge, die Busen und Köpfe der Frauen, die Falten ihrer Kleidung, ihre Haltung im Vorübergehen, die Linien ihrer Gestalt nach unten,
Den Schwimmer im Bade, wie man ihn in dem klar durchleuchteten Grün schimmern sieht, oder wie er auf dem Rücken liegt und sich wohlig beim Heben und Senken des Wassers wiegt,
Das Vor- und Zurückbeugen der Ruderer im Boot, den Reiter im Sattel,
Mädchen, Mütter, Hausfrauen in all ihren Beschäftigungen,
Die Gruppen von Feldarbeitern in der Mittagszeit, wie sie bei ihren aufgedeckten Speisekesseln sitzen, und ihre wartenden Frauen dabei,
Den Burschen, der das Getreide harkt, den Schlittenfahrer, der seine sechs Pferde durch die Menge lenkt,
Das Ringen der Ringkämpfer, zwei ausgewachsene Lehrbuben, rüstige, gutmütige Landeskinder, draußen auf dem leeren Bauplatz, bei Sonnenuntergang nach der Arbeit,
Röcke und Mützen zu Boden geworfen, Umarmen der Freundschaft und Widerstand,
Obergriff und Untergriff, Haare wirr herunter bis über die Augen!
Den Aufmarsch der Feuerwehrleute in ihren Kitteln, das Spiel der männlichen Muskeln durch prallsitzende Hosen und Leibriemen,
Die langsame Rückkehr vom Brande, das Stillstehen sobald die Alarmglocke plötzlich wieder läutet, das Aufhorchen,
[124] Die natürliche, verschiedenartige Haltung, der vorgebeugte Kopf, der gebogene Hals und das Zählen der Glockenschläge,
Solches liebe ich – ich löse mich los, geh' ungebunden, bin an der Mutterbrust mit dem kleinen Kinde,
Schwimme mit den Schwimmern, ringe mit den Ringern, marschiere im Gliede mit der Feuerwehr, horche, zähle ...
Ich habe ausgefunden, daß es mir genügt, bei denen zu bleiben, die ich lieb habe,
Abends in Gesellschaft mit andern zu sein, genügt mir,
Umgeben zu sein von schönem, atmendem, lachendem Fleisch, genügt mir,
Mich unter ihnen zu bewegen, irgend einen zu berühren, meinen Arm, wenn auch noch so leise, um seinen oder ihren Hals zu legen, – was liegt doch darin?
Ich verlange keine größere Wonne, ich schwimme darin, wie in einem Meer!
Hier ist die weibliche Gestalt,
Ein göttlicher Schimmer strömt aus ihr, vom Kopf bis zu den Füßen,
Sie besitzt eine heftige, unwiderstehliche Anziehungskraft,
Ihr Atem zieht mich an, als wäre ich ein willenloser Nebel, alles versinkt, ausgenommen mein Ich und sie.
Bücher, Kunst, Religion und Zeit, die sichtbare, feste Erde, Alles, was man vom Himmel erwartete oder von der Hölle fürchtete, ist jetzt verschwunden,
Wilde Fühlfäden, unbändige Blitze zucken hervor, die Gegenwirkung ist gleichfalls unbezwinglich,
[125] Haare, Busen, Hüften, die Biegung der Beine, lässig hinsinkende Hände, ganz aufgelöst, meine Glieder auch,
Ebbe, angestachelt von der Flut, und Flut, angehalten von der Ebbe, Liebesfleisch, schwellend und köstlich schmerzdurchbebt,
Unermeßlich klare Strahlen der Liebe, heiß und ungeheuer, zuckender Gallert der Liebe, Gischt und Saft der Raserei!
Bräutliche Nacht der Liebe, sicher und sanft eindringend bis in den erschlafften Tag,
Hineinwogend in den willigen und weichenden Tag,
Verloren im Liebesumschlingen, Tag von köstlichem Fleisch!
Schämt euch dessen nicht, ihr Weiber! euer Vorrecht umschließt alles andere und ist der Ausgang für alles,
Ihr seid die Pforten des Leibes, und ihr seid die Pforten der Seele.
Das Weib enthält alles und mildert alles,
Sie ist an ihrem Platz und bewegt sich in vollendetem Gleichgewicht,
Sie ist alles in allem, richtig verschleiert, ist duldend und handelnd zugleich,
Sie soll Töchter sowohl wie Söhne empfangen, und Söhne sowohl wie Töchter gebären.
Ich sehe meine Seele in der Natur widergespiegelt,
Wie durch einen Nebel, eine Gestalt in vollkommenster Gesundheit und Schönheit,
Sehe das gebeugte Haupt und die Arme, über die Brust gefaltet: Die weibliche Form sehe ich.
Der Mann ist nicht weniger die Seele, oder mehr; auch er ist an seinem Platze,
Er enthält auch alle Eigenschaften, er ist Tatkraft und Macht,
[126] Die Blüte des Weltalls liegt in ihm,
Verachtung kleidet ihn gut, Begierde und Trotz stehen ihm wohl an,
Die wildesten stärksten Leidenschaften, höchste Seligkeit, tiefste Trauer kleiden ihn wohl, der Stolz ist für ihn,
Der voll durchdringende Stolz des Mannes erfreut die Seele und befriedigt sie,
Wissen schmückt ihn, er liebt es stets, an alles legt er seinen Maßstab,
Was auch das Gebiet, was auch das Meer und das Schiff, hier nur zuletzt fühlt er Grund,
(Wo sonst fühlte er Grund, als hier?)
O mein Leib! ich wage nicht, das dir Verwandte in andern Männern und Weibern zu verlassen, noch ähnliche Teile von deinesgleichen,
Ich glaube, sie sollen mit den dir verwandten Seelen stehen oder fallen, (daß sie die Seele sind),
Und glaube, sie sollen mit meinen Gedichten stehen oder fallen, und daß sie meine Gedichte sind,
Gedichte des Mannes, des Weibes, des Kindes, der Ehegattin, des Ehegatten, der Mutter, des Vaters, des Jünglings, des Mädchens,
Kopf, Hals, Haar, Ohren, Ohrläppchen, Trommelfell,
Augen, Augenwimpern, Augenstern, Augenbrauen und das Wachen oder Schlafen der Augenlider,
Mund, Zunge, Lippen, Zähne, Mundhöhle, Kinnbacken und die Scharniere des Kiefers,
Nase, Nasenlöcher und Scheidewand,
Wangen, Schläfen, Stirn, Kinn, Kehle, Nacken, Drehpunkt des Halses,
[127] Starke Schultern, männlicher Bart, Schulterblatt und die volle Wölbung des Brustkorbes,
Oberarm, Achselhöhle, Ellbogengelenk, Unterarm, Armsehnen, Armknochen,
Handgelenk und Beuge des Handgelenks, Handfläche, Knöchel, Daumen, Zeigefinger, Fingergelenke, Fingernägel,
Breite Vorderseite der Brust, Kräuselhaare der Brust, Brustknochen, Brustseiten,
Rippen, Bauch, Rückgrat, Rückgratwirbel,
Hüften, Hüftgelenke, Stärke der Hüften, innere und äußere Rundung, Manneseier, Manneswurzel,
Fester Bau der Schenkel, den Rumpf oben sicher tragend,
Sehnen der Beine, Knie, Kniescheibe, Oberbein, Unterbein,
Fußknöchel, Fußspanne, Zehen, Zehengelenke, Ferse,
Sympathicus, Herzklappen, Gaumenklappen, Geschlecht, Mutterschaft,
Weiblichkeit und alles, was des Weibes ist, und was des Mannes ist, der vom Weibe kommt,
Gebärmutter, Brüste, Brustwarzen, Brustmilch, Tränen, Lachen, Weinen, Liebesblicke, Liebeswallungen und Regungen,
Die Stimme, Sprache, Geflüster, lautes Rufen,
Das Wiegen des Oberleibes auf den Hüften, Springen, Biegen, Umarmen, Armbeugen und Spannen,
Der beständige Wechsel in den Linien des Mundes und um die Augen,
Die Haut, Sonnengebräuntheit, Sommersprossen,
Die merkwürdige Hinneigung, die man spürt, wenn man mit der Hand das nackte Fleisch betastet,
Die Schönheit der Taille und weiter abwärts der Hüften und Kniee,
[128] Die flüssigen roten Säfte in dir oder mir, die Knochen und das Mark in den Knochen,
Das köstliche Gefühl der Gesundheit!
O ich sage, dies sind nicht allein Teile und Gedichte des Leibes, sondern der Seele,
O jetzt sage ich: diese sind die Seele!
[129] Aus »Calamus«
[130]Von der furchtbaren Ungewißheit der Erscheinungen
Der schreckliche Zweifel an den Erscheinungen!
Die Ungewißheit, ob wir, trotz allem, vielleicht doch getäuscht werden,
Ob Zuversicht und Hoffnung schließlich nichts als Vermutungen sind,
Daß die persönliche Fortdauer jenseits des Grabes vielleicht nur ein schönes Märchen,
Die Dinge, die ich wahrnehme, Tiere, Pflanzen, Menschen, Berge, flimmernde und fließende Gewässer,
Der Himmel am Tage und in der Nacht, Farben, Festigkeit, Formen, vielleicht nur Erscheinungen sind (was zweifelsohne der Fall), daß das wirkliche Etwas noch zu entdecken ist? ...
(Wie oft springen die Dinge aus sich heraus, wie um mich zu verwirren und zu verhöhnen,
Wie oft meine ich, daß weder ich noch ein anderer etwas von ihnen weiß),
Möglicherweise scheinen sie mir, was sie sind (wie sie zweifellos nur scheinen), von meinem gegenwärtigen Gesichtspunkt aus, und erwiesen sich (was selbstverständlich ist) als etwas ganz anderes als sie scheinen, oder überhaupt als nichts, von gänzlich veränderten Gesichtspunkten aus gesehen –
Solches und ähnliches wird mir seltsam beantwortet durch meine Geliebten, meine teuren Freunde,
[131] Wenn derjenige, den ich liebe, mich auf der Reise begleitet, oder eine Weile neben mir sitzt und meine Hand hält,
Wenn die feine Luft, das Ungreifbare, ein Gefühl, das Worte und Verstand nicht umspannen können, uns umgibt und durchdringt,
Dann bin ich voll unausgesprochener und unaussprechlicher Weisheit, ich bin ruhig, ich verlange nichts weiter,
Ich kann das Ungewisse der Erscheinungen oder des bewußten Fortlebens nach dem Grabe nicht beantworten,
Doch ich gehe oder sitze da, gleichmütig, bin zufrieden,
Der, der meine Hand hält, hat mich vollkommen zufrieden gemacht.
[132] Begegnung
[133] Einem Vorübergehenden
Vorübergehender, du ahnst nicht wie sehnsüchtig ich dir nachblicke!
Du mußt der sein, den ich suche, oder die, die ich suche (es kommt über mich wie ein Traum),
Ich lebte gewiß schon mit dir ein Leben des Glückes ...
Alles kam wieder ins Bewußtsein zurück, als wir eben so rasch aneinander vorbeigingen, eilig, zärtlich, reif und geläutert;
Du bist mit mir aufgewachsen, als Knabe oder Mädchen,
Ich aß mit dir und schlief mit dir; dein Körper gehört nicht dir allein, und meiner nicht mir allein,
Du schenkst mir im Vorübergehen die Freude deiner Augen, deines Gesichts und deines Fleisches, und nimmst mir dafür von meinem Bart, Brust und Händen,
Ich darf dich nicht anreden, muß aber an dich denken, wenn ich einsam sitze oder nachts wach liege,
Ich soll warten, ich weiß gewiß, daß ich dich einmal wiedersehen werde,
Ich habe nur darauf zu achten, daß ich dich nicht verliere.
[134] Im Gedränge der Menge
[135] Unerwiderte Liebe
Manchmal bringe ich mich selbst in zornige Erregung über einen, den ich liebe, aus Furcht, unerwiderte Liebe auszuströmen,
Doch jetzt meine ich, es gibt keine unerwiderte Liebe – der Lohn ist sicher auf eine oder die andere Weise –
Ich habe inbrünstig geliebt, und meine Liebe blieb unerwidert,
Aber daraus entstanden diese Lieder.
[136] Keine arbeitsparende Maschine
[137] Meine losesten Blätter
[138] Tropft, ihr Tropfen!
[139] Wir zwei Knaben
[140] Man hat mir vorgeworfen
Ein Sang der Freuden
O, die Freude des muskelkräftigen Fechters in der Arena; hochaufgerichtet steht er in tadelloser Verfassung, kraftbewußt, dürstend nach dem Gegner!
O, die Freude des mächtigen ursprünglichen Mitfühlens, das nur die menschliche Seele zu erzeugen und auszugießen vermag in steten, unaufhörlichen Fluten ...
[144] O, an Meeresbuchten, Lagunen, Schluchten oder am Meeresstrand aufgewachsen zu sein,
Dort zu bleiben und das ganze Leben beschäftigt zu sein:
Der feuchte Salzgeruch, das Ufer, der Tang, der bei Ebbe bloßgelegt wird,
Die Arbeit der Fischer, der Aalfischer und Muschelfischer –
Ich komme mit Muschelharke und Spaten, ich komme mit meinem Aalstecher.
Ist schon Ebbezeit? Ich gehe mit den andern Muschelgräbern auf die Sandbänke,
Ich lache und arbeite mit ihnen und bin lustig dabei wie ein übermütiger Bursche.
Im Winter nehme ich meinen Aalkorb und Speer und gehe hinaus aufs Eis,
Ich habe eine kleine Axt, um Löcher ins Eis zu hauen;
Dann sieht man mich warm angezogen, fröhlich hinauswandern, oder nachmittags zurückkommen,
Eine Bande von derben Jungen begleitet mich,
Meine Brut erwachsener oder halbwüchsiger Jungen, die bei keinem so gern sein mögen wie bei mir,
Am Tage mit mir arbeiten und nachts bei mir schlafen.
Ein andermal bei warmem Wetter draußen im Boot, um die Hummerkörbe aufzuholen, wo sie mit schweren Steinen versenkt sind (ich kenne die Bojen),
O, die Frische des Morgens des fünften Monats auf dem Wasser, wenn ich eben vor Sonnenaufgang nach den Bojen hinrudere;
Ich ziehe die Körbe schräge herauf, die dunkelgrünen Hummer wehren sich verzweifelt mit ihren Scheren während ich sie herausnehme,
[145] Ich schiebe Holzkeile in die Gelenke ihrer Kneifzangen,
Ich rudere nach allen Stellen hin, eine nach der an dern, und dann zum Strand zurück,
Dort in einem großen Kessel mit kochendem Wasser sollen die Hummer kochen, bis sie scharlachrot werden.
Ein andermal beim Makrelenfang;
Gefräßig und wild, schnappen sie nach dem Haken dicht unter der Oberfläche des Wassers, scheinbar meilenweit kann man sie verfolgen;
Ein andermal beim Klippenfischfang in Chesapeake- Bay, und ich einer von der gebräunten Mannschaft;
Ein andermal beim Blaufischfang in Schleppnetzen vor Paumanok,
Ich stehe mit straffgespanntem Körper,
Mein linker Fuß auf dem Außenbord, mein linker Arm wirft die aufgerollten dünnen Leinen weit hinaus,
Ringsum im Gesichtskreis das flinke Wenden und Halsen von fünfzig Schaluppen, meinen Begleitern.
O, das Bootfahren auf den Flüssen! den Lawrencestrom hinunter, die herrliche Scenerie, die Dampfer, die Segelschiffe, die tausend Inseln,
Die Holzflöße und die Floßlenker mit ihren langen Schwungrudern,
Die kleinen Hütten auf den Flößen, mit den Rauchsäulen, wenn das Abendessen gekocht wird.
O, die Freuden des Walfischfängers!
Ich segle wieder meine frühere Kreuzfahrt,
Fühle die Bewegung des Schiffes unter mir, fühle wie die atlantische Brise mich fächelt,
Höre wieder den Ruf, vom Mastkorb gemeldet: »Da – bläst schon einer!«
[147] Wieder klettere ich mit den andern am Takelwerk hinauf und wieder hinunter, toll vor Aufregung,
Ich springe in das hinuntergelassene Boot, wir rudern auf unsere Beute zu, wo sie still liegt,
Wir kommen heran, vorsichtig und schweigend,
Ich sehe die bergartige Masse schläfrig sich sonnend,
Sehe den Harpunier aufrecht stehen – wie die Waffe seinem kräftigen Arm entsaust! –
Und wieder zieht mich der verwundete Wal weit hinaus in den Ozean, untertauchend, windwärts entfliehend, schleppt er uns hinter sich her.
Ich sehe ihn an die Oberfläche kommen, um Luft zu holen,
Wir rudern näher heran,
Ich sehe wie eine Lanze in seine Seite getrieben und tief in der Wunde umgedreht wird,
Wieder rudern wir rückwärts von ihm ab, ich sehe wie er nochmals niedersinkt, das Leben schwindet ihm rasch,
Beim Auftauchen speit er Blutstrahlen, ich sehe wie er im Kreise herumschwimmt – immer enger und enger, das Wasser scharf durchschneidend,
Und zuletzt, wie er stirbt: er macht einen krampfhaften Sprung im Zentrum des Kreises und fällt dann flach auf die Seite, ganz bewegungslos in dem blutigen Schaum.
O, die Freude meiner Seele, die mit sich selbst im Gleichgewicht, alles Gleichartige empfängt durch die Materie und sie liebt, Charaktere beobachtet und in sich aufnimmt,
Meine Seele wird von andern zurückgestrahlt aus Gesicht, Gehör, Gefühl, Verstand, Lautbildung, Vergleichung und Erinnerung,
Das wirkliche Leben meiner Sinne und meines Fleisches geht über mein Fleisch und meine Sinne hinaus,
Mein Körper hat die Materie erledigt, mein Sehen mit den leiblichen Augen ist abgetan,
Heute ist es mir über jeden Zweifel erwiesen, daß es nicht meine materiellen Augen sind, welche endgültig sehen,
Noch mein materieller Leib, welcher endgültig liebt, geht, lacht, ruft, umarmt und sich fortpflanzt!
Dennoch, o meiner Seele Höchstes!
Kennst du sie, die Freude des ruhigen Denkens?
Die Freude des freien und einsamen Herzens, des zärtlichen, trauernden Herzens?
Die Freuden des einsamen Spazierganges, wann das Gemüt niedergedrückt und doch stolz ist, das Leiden und mit sich Ringen?
Die geistigen Wehen, die Ekstasen, die Freuden des feierlichen Sich-Vertiefens, tags oder nachts?
Der Gedanke an den Tod, an die großen Sphären: Zeit und Raum?
Die ahnungsvollen Freuden besserer, höherer Liebesideale, die göttliche Ehegattin, der süße, der ewige, der vollkommene Kamerad?
Das sind deine eigenen, unsterblichen Freuden, deiner würdig, o Seele!
Während man lebt ein Herrscher, nicht ein Sklave des Lebens zu sein,
Dem Leben wie ein Eroberer entgegenzutreten,
Keine trüben Dünste, keine Langeweile, keine Klagen mehr noch höhnische Kritiken,
[151] Nur die stolzen Gesetze der Luft, des Wassers und der Erde, die mir beweisen, daß mein Innerstes unerschütterlich ist,
Und daß nichts außer mir jemals Gewalt über mich gewinnen soll.
Nicht die Freuden des Lebens allein besinge ich, sondern auch wieder die Freuden des Todes:
Die schöne Berührung des Todes, für einen Augenblick besänftigend und betäubend, der Natur gehorchend,
Ich lege meinen ausscheidenden Körper ab, um verbrannt, zu Staub gemahlen oder begraben zu werden,
Mein wirklicher Leib bleibt mir sicherlich für andere Sphären,
Mein leerer Körper ist mir nichts mehr; er kehrt zurück zu der Reinigung, zur weiteren Verwertung und zum ewigen Nutzen der Erde.
[153] Verschiedenes
[154]An eine Prostituierte
[155] Ihr Sünder auf der Bank vor Gericht!
[157] An den Gekreuzigten
[159] Schauen und Schweigen
Und all das Erdenleid:
Kriege, Seuchen, Gewaltherrschaft, Märtyrer, Gefangene, Hungersnot – Matrosen, die auslosen, wer getötet werden soll, damit die andern leben können,
Die Verachtung und Schmähung der Hochmütigen gegen Arbeiter, Arme und Neger,
Gemeinheit und Qual ohne Ende,
Sehe ich, höre – und schweige.
[160] Im Schlaf um Mitternacht
[161] Die Fackel
[162] An reiche Geber
Was ihr mir gebt, nehme ich freudig entgegen,
Etwas Zehrung, eine Hütte nebst Garten, ein wenig Bargeld – so lange ich hause daheim mit meiner Muse.
Eines Wanderers Nachtquartier mit Morgenimbiß auf meinen Reisen durch die Staaten – weshalb sollte ich mich schämen, solche Gaben zu bekennen?
Warum nicht dafür anzeigen in den Zeitungen?
Denn ich gehöre doch nicht zu denen, die Mann und Weib nicht beschenken?
Ich schenke jedem Mann oder Weib den Zutritt zu den Gaben des Weltalls.
[163]- Notizen
- Erstdruck der ersten Version (anonym im Selbstverlag): Brooklyn, New York 1855. Die Ausgabe wurde in den folgenden 8 Auflagen immer wieder erweitert. Die endgültige Version der Sammlung erschien als Ausgabe letzter Hand: Philadelphia (David McKay) 1891/92. Der Text der hier vorliegenden Auswahl folgt der Übers. v. Wilhelm Schölermann.
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- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2012). Whitman, Walt. Grashalme (Auswahl). TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A5BA-0