[118] 6. Das Dörtchen von Rebenbach

Zwei Kinder

Es war der 10. Oktober des Jahres 1780 ein gar schöner sonniger Herbsttag, so ein Tag, an dem alte Herzen wieder jung werden und junge überfließen möchten von Lebenslust. Die Sonne schien so voll und warm, als wollte sie noch einen recht herzlichen Abschied nehmen von der Erde, ehe sie sich in ihre Winterschleier hülle.

In dem anmutig gelegenen Dorfe Rebenbach war gerade die Weinlese in vollem Gange, ein fröhliches Leben und Treiben auf all den Höhen ringsumher. Am lustigsten ging's aber zu in dem Weinberge des Pfarrers; da wurde nicht gespart an Lohn und Kost der »Leser« (wie man in Schwaben die traubenschneidenden Winzer nennt), darum waren sie auch so guter Dinge bei ihrer Arbeit und ließen noch vor dem Feierabend aus der alten Pistole des Husarenmartins, eines Veteranen, hie und da einen tüchtigen Schuß los, der knallend von all den Bergen und Hügeln umher widerhallte und von da und dorther erwidert wurde.

Die Mägde des Hauses samt einigen Weibern und Mädchen des Dorfes, die sich's zur Ehre rechneten, heute zu helfen, schnitten flink die Trauben in die Kübel, wobei der Martin die Aufsicht führte, ob auch die Stöcke pünktlich abgelesen und die abgefallenen Beeren gesammelt würden. Die vollen Kübel wurden in einen hohen Butten geleert, den ein junger Bursche den Berg hinabtrug. Unten wurden die Trauben in eine Kufe mit durchlöchertem Boden (Renner genannt) geschüttet, in der Jakoble, ein rotbackiger Bauernbube, lustig darauf herumtanzte, so daß ihr Saft in die darunter stehende weite Bütte floß als trübe Brühe, der man's nicht ansah, daß sie nachher den köstlichen süßen Most, den edlen klaren Wein gebe.

Oben in dem Weinberge, wo man das ganze weite Tal übersieht, stand eine große Laube mit langem Tisch; dort war Dörtchen, des Pfarrers Töchterlein, emsig beschäftigt, den [118] Tisch zur Bewirtung der Herbstgäste zu rüsten, die heute aus der Stadt erwartet wurden. Die schönsten Trauben hatte sie zierlich zwischen Rebenlaub in die Körbe geordnet, den weißen Herbstkäse, mit Kümmel bestreut, in Porzellangeschirren aufgestellt, den roten Wein in helle Flaschen gefüllt; ja, die Mutter hatte ihr sogar anvertraut, den Schinken aufzuschneiden und auf den Teller zu legen.

Das Dörtchen war erst dreizehn Jahre alt und kleiner als die meisten Mädchen ihres Alters; aber sie drehte sich dreimal um bis andre nur einmal und sah aus ihren hellen, blauen Augen so freundlich in die Welt hinaus, daß jedermann eine Freude an ihr hatte. Sie war stets fröhlichen Herzens, heute aber, wo sie so viel vergnügte Leute sah, war's ihr einmal ganz besonders wohl auf der Welt. Obgleich sie just keine sonderliche Singstimme hatte, sang sie doch aus lauterer Herzensfreude mit hellem Tone: »Rosen auf den Weg gestreut und des Harms vergessen!« was damals ein nagelneues Lied war. Da erblickte sie ein junges Mädchen ihres Alters, die höchst mühsam die schmalen Weinbergstäffelein heraufstieg, und mit dem Jubelruf »Liesle, Liesle!« hätte sie fast das Glas fallen lassen, das sie eben hell reiben wollte; aber sie besann sich schnell, stellte es rasch auf den Tisch und sprang dann mit fröhlichen Sätzen, leicht wie ein junges Reh, der Ankommenden entgegen. Das Liesle (die sich aber nicht gern so nennen ließ, wie wir bald hören werden) vermochte mit ihrem langen himmelblauen Kleide kaum durch die enge Furche zu kommen, und[119] Dörtchen, der ihr etwas verwachsenes kurzes Barchentkleidchen nicht hinderlich am Steigen war, konnte fast nicht erwarten, bis sie sie endlich mit heiler Haut heraufgebracht hatte.

»Nun aber sag mir, Liesle,« fing sie an, »was fällt dir ein, in deinem hellblauen Levantinkleid hierher in den Herbst zu kommen? Unsern Bauern hättest du in einem Merinokleide ebenso wohl gefallen. Aber gelt, da kommst du dir wie so ein Fräulein vor in den Romanen, die du so gern liest?« Elischen, die gerade so alt wie Dörtchen, aber viel größer und ein hübsches schlankes Mädchen war, nahm den Empfang etwas übel; denn sie kam sich besonders schön vor in dem himmelblauen Kleide und hatte nur schwer von der Mutter Erlaubnis erhalten, es anzuziehen. Da aber Dörtchen doch recht hatte, so fing sie von was anderm an: »Aber, liebes Dörtchen, könntest du mich denn nicht Elise nennen, da du weißt, daß ich's viel lieber habe? Lieschen klingt doch so gar gewöhnlich; ich werde dich ja gern Dorette oder Doris heißen, wenn du willst.«

»Bedanke mich dafür,« meinte Dörtchen; »wenn's der Mutter nicht zu lang wäre, ließ' ich mich am liebsten Dorothea heißen, wie ich getauft bin, seit ich vom Vater weiß, was für eine schöne Bedeutung der Name hat. Dir tue ich aber gern den Gefallen, dich Elise zu heißen, wenn ich's nicht hundertmal wieder vergesse. Nun aber komm und iß Trauben! Die andern Sachen wollen wir stehen lassen, bis die Eltern mit den Gästen kommen.«

Elise (wir wollen ihr auch den Gefallen tun, sie so zu nennen) war den andern Gästen vorangegangen, die der Pfarrer auf einem weiteren Wege herführte, um ihr liebes Dörtchen früher zu sehen; denn die zwei Mädchen hatten sich, trotz ihrer großen Verschiedenheit, herzlich lieb. Elise war die Tochter der wohlhabenden Witwe eines niederen Hofbeamten, die in der nahen Hauptstadt wohnte, einer Jugendfreundin der Pfarrerin, daher kannten sich die Mädchen von frühester Kindheit her. Sie war ein lebhaftes, reichbegabtes Mädchen, aber launig und flüchtig in allem, was sie tat, und von der zu nachsichtigen Mutter verwöhnt. Ihr Hauptfehler war der, immer etwas [120] Besonderes sein zu wollen; daher trieb sie meist, was sie nicht sollte; las Romane statt der Schulbücher, wollte Rosen und Vergißmeinnicht sticken, ehe sie recht Strümpfe stricken konnte; wünschte sich, jung zu sterben, statt daß sie mit Gottes Hilfe gesucht hätte, recht leben zu lernen, und machte der Mutter und dem Lehrer mehr Verdruß als Freude, obgleich sie immer und überall für äußerst gescheit und talentvoll galt. Da war das Dörtchen ganz anders: was sie gerade tun sollte, das tat sie recht und ganz, sei es nun Hühnerfüttern oder Lesen, Arbeiten oder Spielen; sie war mit ganzer Seele dabei, darum geschah auch alles recht, was sie ergriff, und sie war stets fröhlich und wohlgemut.

Da die Bewirtung für die Gäste bereit war und Elise noch müde von ihrer außerordentlichen Anstrengung, setzten sich die Mädchen einstweilen mit einem Traubenkörbchen auf die Schwelle der Laube und schauten vergnüglich hinunter in das reiche, gesegnete Tal; an die Höhen, die ringsum belebt waren von frohgeschäftigen Leuten; dahinter der buntgefärbte Wald und darüber der schöne blaue Himmel. Es war so schön hier, daß ihnen recht das Herz aufging.

»Hör, Dörtchen,« begann Elise, »möchtest du nicht, daß es noch Feen gäbe? Daß dort hinter dem vorstehenden Fels jetzt plötzlich so eine Frau in glänzenden Gewändern hervorträte und uns drei Wünsche erfüllen wollte?«

»Ja,« sagte Dörtchen, »als ich die Geschichten zuerst las, ist mir's auch immer durch den Kopf gegangen, und ich dachte, das wäre prächtig; aber nachher ist mir eingefallen, daß der liebe Gott doch mehr kann als alle Feen und daß er uns noch viel lieber hat, darum wird der uns schon geben, was wir brauchen.«

»Wüßtest du denn jetzt gar keine Wünsche, Dörtchen?«

»Ich? Wart einmal, ich will mich besinnen; ja, auf den Winter möcht' ich ein Spinnrädchen, ich spinne gar nicht gern an der Spindel; doch nein, das gilt nicht, das krieg' ich vielleicht zum Christtag. Aber ich möchte, daß der Vater recht gesund wäre und daß der Nachbarin ihr Fritz nicht unter die Soldaten [121] müßt', sie weint so um ihn; und schön singen können möcht' ich auch, daß der Schulmeister nimmer sagte, seine Hühner gehen drauf von meinem Gesang, und so einen Beutel, der nie leer wird, ließ' ich mir gern auch gefallen, aber ich weiß dann doch nicht, ob ich's auch recht austeilen könnte. – Aber was weißt denn du alles, Elise?«

»Ich,« sagte diese mit glänzenden Augen, »ich möchte schön sein, ach, so wunderschön! Und möchte den Teppich, auf dem man durch alle Länder fliegen kann, wohin man nur will, und möchte ein Zauberstäbchen, mit dem man alles auf einen Schlag fertigmachen kann, daß ich mich nicht mit so langweiliger Arbeit plagen dürfte, und möchte prächtig singen und malen können, und auch ein Füllhorn, aus dem ich schütteln könnte, was ich nur wollte, die schönsten Kleider ...«

»Ei, und was noch mehr!« rief das muntere Dörtchen, »du hast's ja wie am Schnürchen! Aber hör,« fuhr sie nachdenklich fort, »ich meine, darum habe uns Gott doch nicht in die Welt geschickt, daß wir alles mit einem Zauberstäbchen fertigmachen sollen; und wenn man recht getan hat, was man soll, so ist man am Ende doch noch vergnügter, als wenn man gleich hat, was man nur will.«

»Ach, geh! Ich würde ja auch aus meinem Füllhorn den armen Leuten Geld und Kleider herunterschütteln ...«

»Und ich würde die faulen Mädchen heimjagen, die im Herbst dasitzen und schwatzen, statt zu lesen. Schnell hinunter in den Weinberg, wenigstens du, Dörtle!« so rief Dörtchens Mutter, die Frau Pfarrerin, die inzwischen unbemerkt hinter die Mädchen getreten war. Dörtchen sprang rasch auf, grüßte die ankommenden Gäste freundlich, wenn auch rot vor Beschämung, nahm einen Traubenkübel und ihr Häpchen, eilte flink damit in den Weinberg und fing an zu schneiden, als ob sie heut noch allein fertigmachen wolle. Elise war empfindlich, daß man sie so als Kind an die Arbeit schickte, während sie schon in Gedanken als Feenkönigin herumgeschwebt war; sie wollte Dörtchen helfen, aber das Levantinkleid zerriß an den Traubenstöcken; mit dem Häpchen schnitt sie sich in die Finger, weil sie [122] die Trauben verkehrt hielt, und stieß mit dem Fuß den Traubenkübel um, so daß die Winzer ein lautes Gelächter erhoben über das »Stadthettele«, wie sie sie nannten, worüber sie tief gekränkt sich in die Laube zu den Erwachsenen setzte. Dort aber gab man zum Verwundern wenig acht auf sie; niemand sagte davon, wie gut sie singe und wie hübsch sie deklamiere, und niemand bewunderte ihr Levantinkleid. »Ach,« dachte sie im stillen, »wenn doch die Fee käme und mich plötzlich in ein großes, wunderschönes Fräulein verwandelte!«

Es war Abend geworden und die Lese beendigt, da geht aber erst noch die rechte Herbstlust an. Drunten auf einer Kleewiese hatten sich die Leser gelagert und ließen sich's herrlich schmecken bei Käse, Wurst und Wein. Oben hatte man zur Würze des Festmahls noch im Freien Kartoffeln gesotten, die reißend Abgang fanden. Nun ging das Schießen rasch und unaufhörlich fort. Die jungen Herren erschreckten die Damen mit angezündeten Fröschen und ließen Schwärmer und prächtige Raketen steigen, denen die Leute unten stets ein jubelndes »Ah!« nachriefen.

Die Mädchen saßen wieder beisammen, seitwärts auf einem Rain, wo sie dem Feuerwerk sicher zuschauen konnten. Dörtchen hatte sich müde geschafft und sah jetzt still zu, wie die aufzischenden, rotglühenden Feuerstrahlen einen Augenblick die kleinen, blassen Sterne zu verdunkeln schienen, die nachher doch wieder so still und klar dreinschauten wie immer. Das Gespräch von dem Nachmittag fiel ihr wieder ein und Elisens Wünsche. Da bat sie Gott im stillen, er möge ihr helfen, daß sie den Menschen lieb werden könne auch ohne große Schönheit, daß sie ihr Tagewerk recht vollbringe auch ohne Zauberstab, daß sie Armen Gutes tun dürfe auch ohne ein wunderbares Füllhorn; und es wurde ihr so still und wohl ums Herz, als ob alles recht und gut werden müsse.

»Siehst du,« rief Elise, als eben eine prächtige Rakete zischend auffuhr und in funkelnden Sternlein niederfiel, »siehst du, so möcht' ich ein Leben, glänzend, wunderbar und herrlich, und wenn's auch kurz dauerte!«

[123] »Die Rakete ist aus,« sagte Dörtchen, »jetzt fällt nur noch ein verbranntes Holz zur Erde; da möcht' ich lieber ein stilles Sternlein sein, das seine Bahn zieht, wie sie Gott verordnet hat, auch wenn niemand darauf achtet, als so ein Ding, das brausend hinauffährt und dann auslischt, ohne daß man mehr daran denkt.«

»Dörtchen,« fing nach einer Weile die aufgeregte Elise wieder an, »hast du auch schon gehört, daß ein Wunsch erfüllt wird, den man im Augenblick denkt, wo ein Stern fällt?«

»Ach, kommst du schon wieder ans Wünschen?«

»Hör, Dörtchen, wenn ich doch in die Zukunft sehen könnte! Ich möchte nur wissen, wo wir beide in zehn Jahren sein werden.«

»Wo der liebe Gott will,« sagte Dörtchen ruhig.

»Dörtchen,« fuhr Elise fort, »heute ist der 10. Oktober; wir wollen einander versprechen, nach zehn Jahren wieder hier zusammenzukommen, wenn wir noch leben, mögen wir auch sein, wo wir wollen.«

»Oh, von Herzen gern! Das ist wohl leicht zu halten; in zehn Jahren werden wir noch nicht weit von hier sein.«

»Sei das, wie es will, versprich mir's!« rief Elise, und Dörtchen schlug lächelnd ein.

Inzwischen hatte man Fackeln angezündet und schickte sich zum Gehen an. Dörtchen half die Reste der Mahlzeit und das Gerät zusammenpacken und nahm einen Korb an den Arm. Nun brannten die Fackeln, und Winzer und Gäste schritten bei ihrem Glanze singend dem Dorfe zu, während dazwischen die letzten Schüsse fielen. Leise singend schlossen sich die Mädchen dem Zuge an, während sie aufschauten zum stillen Nachthimmel. Elise dachte an die schimmernde Rakete, Dörtchen an den lieblichen Stern – da fuhr eine helle Sternschnuppe über den Himmel und erlosch.

Zwei Bräute

Zehn Jahre waren vergangen, der 10. Oktober war wieder gekommen, aber nicht so sonnig wie damals. Es war ein nebliger Herbsttag, und die Weinlese hatte noch nicht begonnen. [124] Drunten im Tale waren die Leute mit der Kartoffelernte emsig beschäftigt; in den Weinbergen aber schritt nur der Weinberghüter (Wingertschütz genannt) mit seiner Rassel umher und ließ sie hie und da warnend ertönen, obgleich in diesem Jahre Menschen und Vögel nicht besonders lüstern nach den sauren Trauben waren. Dörtchen hatte keine große Lust gehabt, an dem kühlen Tage in der Laube zu warten, aber Elise hatte sie gestern in einem Briefchen so feierlich an das alte Versprechen gemahnt, daß sie doch Wort gehalten. Um sich das Frieren und die lange Zeit des Wartens zu vertreiben, hatte sie die Schürze voll Bohnen gepflückt und saß nun in der Laube, um sie auszuhülsen, während sie hinuntersah nach der Freundin.

Das Dörtchen war ein wenig klein geblieben und keine Schönheit geworden. Aber ihre blauen Augen glänzten noch so hell und freundlich wie damals vor zehn Jahren, nur daß noch eine tiefere Seele darin aufgegangen. Sie war allenthalben rüstig und rührig, der Mutter geheime Rätin und ihre kräftige Stütze in Haus und Hof, in Garten und Feld, des Vaters Freude und sein Herzblatt. Dabei war ihr Sinn offen für alles Schöne in der Welt, und sie konnte sich die ganze Woche durch heimlich freuen auf den Sonntag, wo sie nachmittags nach dem Gottesdienst mit einem guten Buch in der Laube sitzen durfte. Denn obwohl eine längst erwachsene Jungfrau, war sie doch in demütigem Gehorsam der Mutter untergeben, und die konnte das Lesen an Werktagen nicht gut leiden. Fröhlichen[125] Herzens war sie geblieben, und das Dörtchen von Rebenbach war überall willkommen, wo es hinkam.

Dörtchen hatte damals recht gehabt, die Mädchen waren auch heute nicht weit voneinander; Elise wohnte noch mit ihrer Mutter in der Residenz, und so war es leicht, die verabredete Zusammenkunft auszuführen. Doch freute sich Dörtchen heute besonders auf Elise, denn sie hatte sie seit einigen Wochen nicht gesehen und ihr diesmal so gar viel zu sagen. Die alte Kinderfreundschaft bestand noch, obwohl sich die große Verschiedenheit der Mädchen im Laufe der Jahre immer deutlicher herausstellte.

Elise war wirklich schön geworden, und manche ihrer Gaben hatten sich glücklich entwickelt. Sie war die beste Tänzerin, sie zeichnete, malte, schnitt aus, sie machte Gedichte, spielte Klavier, sang und deklamierte. Kurz, sie war ein höchst talentvolles Mädchen, der ihre gute Mutter die Strümpfe flickte und die Kleider aufräumte; sie tat eine Menge Sachen, nur ja nicht, was nötig war, stets bemüht, immer ganz anders zu sein und zu scheinen als alle andern Leute.

Endlich sah Dörtchen sie mühsam und langsam wie damals und ebenso auffallend gekleidet den Weinberg heraufsteigen. Das himmelblaue Levantinkleid war zwar längst dahin; dafür aber trug sie an dem kühlen Herbsttage ein weißes Kleid mit blauer Schärpe und statt des Hutes einen Schleier auf dem Kopfe. Dörtchen gab diesmal nicht darauf acht und eilte so leichtfüßig wie vor zehn Jahren auf sie zu. Elise aber trat ihr besonders feierlich entgegen und rief aus: »Dörtchen, umarme mich, ich bin Braut!« Das Dörtchen stellte sich gutwillig auf die Zehen, um die hochgewachsene Elise zu umarmen; als dies geschehen war, streckte sie ihr treuherzig die Hand hin: »Lieschen, gib mir einen Patsch, ich bin auch Braut.«

»Du, Dörtchen, ist's möglich?« rief Elise sehr verwundert, »so sag doch, mit wem!«

»Ei, mit dem Verwalter Schmied, den du im Sommer so oft bei uns getroffen,« sagte Dörtchen errötend und glücklich.

»Wie, Dörtchen? Aber doch nicht mit dem, der mit deinem [126] Vater Brett spielte und deiner Mutter Saatkartoffeln besorgte? Geh, geh! Das wäre ja entsetzlich langweilig für mein munteres, nettes Dörtchen; und vollends Schmied heißen, wie das halbe Vaterland, und er ist, glaub' ich, gar ein gelernter Schreiber!«

»Hör, Elise,« sagte Dörtchen, ernstlich böse, »das ist dumm gesprochen, so gescheit du sonst bist. Der Schmied ist ein braver und recht gescheiter Mann, der noch mehr versteht als Brett spielen und Kartoffeln stecken. Er hat mich von Herzen lieb und ich ihn, die Eltern haben ihre Freude daran: so denk' ich, wir können mit Gottes Hilfe glücklich zusammen werden, und wenn er zehnmal Schmied hieße. Nun aber sag mir, was du für einen Vogel Phönix ausgelesen hast und wie der heißt?«

Würdevoll begann Elise: »In drei Tagen kommt der berühmte Bürger, einer unsrer ersten Dichter, um mich als Gattin heimzuführen.«

»Dich! Der Bürger? Ach geh, das ist unmöglich! Wo hättest du ihn denn kennenlernen?«

»Ja sieh, das ging recht wunderbar. Natürlich bin ich schon seit lange entzückt von seinen Gedichten, wie ja sogar du, mein nüchternes Dörtchen, von einigen. Da ich nun wußte, daß er seine geliebte Frau verloren, sprach ich meine Gefühle für ihn in einem Gedichte aus. Das fand seinen Weg in öffentliche Blätter, Bürger erwiderte es – schrieb mir – und nun bin ich seine Braut! – Aber – du siehst ja so bedenklich aus!«

»Ja, siehst du, Elise, ich meinte indes, wir Mädchen haben in aller Stille zu warten, bis ein Mann kommt und nach uns fragt, sei er ein Dichter oder nicht. Da scheint mir's nun eine verkehrte Welt ...«

»Wir verstehen uns nicht mehr,« sagte Elise beleidigt, »laß uns ins Pfarrhaus zurückgehen! Ich möchte von deinen Eltern noch Abschied nehmen.«

»Nein, sei nicht böse!« bat Dörtchen, gutmütig ihr die Hand bietend. »Gott weiß, wie von Herzen mich's freut, wenn du glücklich wirst! Es war mir nur so ungewöhnt; ich dachte bis jetzt gar nicht, daß ein Dichter auch zum Heiraten in der Welt [127] sei. Aber sag, kennst du denn gar nichts von ihm als seine Gedichte? Ist er ein frommer, ein guter Mann? Taugt er für dein lebhaftes Wesen? Er muß so viel älter sein.«

»Ein Dichter bleibt ewig jung!« rief die begeisterte Elise. »Sieh, Dörtchen, ich habe dir immer gesagt: ›Ich bin kein gewöhnliches Mädchen!‹ Auch mein Schicksal muß ein ungewöhnliches sein.«

»Gott gebe, daß es ein glückliches werde!« sagte Dörtchen leise und innig.

Die Mädchen brachen auf. Noch einmal sahen sie beide tief bewegt auf die schöne Herbstlandschaft, die ein spät gekommener Sonnenstrahl vergoldete, zum letztenmal beide zusammen, ehe ihre Lebensbahnen weit, weit auseinanderliefen.

»Wann werden wir uns wiedersehen?« fragte Elise im Hinabsteigen.

»Das weiß Gott!« erwiderte Dörtchen. »Wohl schwerlich in zehn Jahren, wenn ihr nicht reiselustiger seid als mein Schmied.«

»Und ob es noch so lange anstehe,« rief Elise, »einmal im Leben wollen wir uns doch wieder zusammenfinden am 10. Oktober!«

»Ja, ja,« sagte Dörtchen, »und kommt ihr zu lange nicht, so muß Schmied mich noch zu euch nach Göttingen führen, wenn anders so alltägliche Menschenkinder, die Schmied heißen und zum Schreiberstande gehören, in ein so geistreiches Haus kommen dürfen.«

Bald war die Heimat erreicht, und mit dem feierlichen Versprechen, sich einmal am 10. Oktober wiederzusehen, ob früh oder spät, trennten sich die Freundinnen.

Zwei Frauen

Der 10. Oktober war gar oft schon ins Land gekommen seit jenem Abschied der zwei Bräute. In dem gesegneten Herbst des Jahres 1810 traf er Dörtchen in dem Städtchen Marbach, das so freundlich am Neckar liegt; ihr Mann bekleidete dort eine angesehene Beamtenstelle.

Das Dörtchen war nun eine ehrbare Matrone, und doch [128] noch das alte lebendige Dörtchen von Rebenbach mit den hellen blauen Augen, und die blühenden Töchter und der hochaufgeschossene Sohn, deren glückliche Mutter sie war, hätten leicht für ihre jüngern Geschwister gelten können.

Dörtchen saß eben mit ihrer ganzen Familie in der behaglichen großen Wohnstube des alten Schlosses, das ihnen als Amtswohnung eingeräumt war. Die Weinlese war diesmal ungewöhnlich früh gewesen, und vom großen Vorplatz des Hauses, wo die Weinbütten aufgestellt waren, scholl ein verworrenes, doch fröhliches Getümmel herauf. Dieser Platz war immer, besonders aber zur Herbstzeit, der liebste Tummelplatz der Kinder. »Die Bütten kommen 'raus!« ist ein Losungswort zu unendlichem Jubel; da wird Verstecken, Visiten, Haschen gespielt, alles in und um die Bütten. Nun, wo sie mit Most gefüllt waren, ging das nicht mehr an; dafür schlichen aber genug schelmische Burschen herum, mit ausgehöhlten Holderstäben bewaffnet, mittels deren sie das süße Getränk aus den Bütten schlürften. Dazwischen tönte das Geläut der Schellenmänner (Tagelöhner, die den Wein, der im Ort eingekeltert wird, in die Keller tragen und bunte Bänder auf der Lederkappe und Schellenriemen an der Seite haben, um von weitem bemerkt zu werden und nicht ausweichen zu dürfen).

Es war eben das Plauderstündchen nach Tisch, das auch in Dörtchens geschäftiger Familie für ein trauliches Beisammensitzen freigegeben war, denn der Rat liebte das »Tischeln« ungemein. Der Papa las noch die Zeitung; Luise, die älteste Tochter, studierte die Verkaufsanzeigen in den Beilagen; die rotwangige Sophie, die zweite Tochter, hielt Anna, das Nesthäkchen, auf dem Schoß, um sie besser in den Hof sehen zu lassen; Gustav, der einzige Sohn des Hauses, der als Student in den Ferien daheim war, hatte soeben der Mutter mit einiger Verschämtheit eines seiner Erstlingsgedichte hingeschoben und beobachtete nun über ein Zeitungsblatt weg die Miene, mit der sie es lesen würde; denn der Mutter klares Urteil, aus dem ein so warmes Verständnis ihres jungen Dichters sprach, galt ihm über alles.

[129] »Ei, Papa,« rief Luise, »da ist ein neues Buch angezeigt, das muß schön sein; das könnten Sie uns wohl kaufen: ›Elisa, oder das Weib, wie es sein soll‹.«

»Oh, nicht wahr, Papa!« rief Sophie dazwischen, »denken Sie nur, wie wir dann so erstaunlich vorzüglich würden!«

»Will euch was sagen, Mädchen,« sprach der Vater gutgelaunt, »wenn ihr drei miteinander nur halb so brav und so gescheit werdet wie eure Mutter, so will ich zufrieden sein, und euer Mann kann's auch, ohne die Elisa.«

Dörtchen, der ein Lob aus ihres Mannes Munde ungewöhnt klang, da er sonst kein Freund von vielen Worten war, sah mit hellen Augen zu ihm hinüber und gab ihm freundlich die Hand. Indem fiel ihr Blick auf die Zeitung. »So, heut ist der zehnte,« sagte sie langsam, und Elise und die Herbsttage von Rebenbach standen mit einem Male lebendig vor ihrer Seele.

Sie hatte Elise nicht vergessen, aber seit lange nichts mehr von ihr gehört; auch mochte sie niemand nach ihr fragen, weil ihr's weh tat, nur harte Urteile über sie zu vernehmen. Das hatte sie wohl erfahren, daß Elisens Ehe kurz und höchst unglücklich gewesen; daß ihr Leichtsinn, ihre Vergnügungssucht, ihr schlechtes Haushalten ihren Mann nach zwei Jahren schon zur Scheidung genötigt hatten. Seither wußte sie gar nichts mehr über ihr Leben und Treiben, da auch Elisens Mutter tot war; heute nun mußte sie ihrer so lebhaft gedenken, als ob sie erst gestern Abschied von ihr genommen hätte.

Da kam die Magd eiligst hereingesprungen: »Ach, Frau Rat, eine ganz vornehme Frau ist in einem Einspänner angefahren; gewiß eine Gräfin, sie kommt schon die Stiege herauf!« – »Wird nicht so arg sein mit der Vornehmheit,« meinte Dörtchen. »Sophie, räume schnell vollends den Tisch ab, und du, Luise, bleib da, bis man sieht, ob sie gegessen hat! Wenn ich mit den Augen winke, so koche gleich eine Grießsuppe und Pfannkuchen.«

Noch ehe diese Anweisungen ganz zu Ende waren, schritt eine große, abgemagerte Gestalt in rotem Samtkleid und einem vergilbten, ehemals weißen Seidenhut mit ausgebreiteten [130] Armen auf Dörtchen zu, mit dem Ausrufe: »Dörtchen, so sehen wir uns wieder!« –

An diesem Empfang hätte Dörtchen nun freilich Elise erkannt, auch wenn das verfallene, welke Gesicht keine Spur der Jugendzüge mehr gezeigt hätte. Sie stellte nun Frau Elise Bürger, ihre Jugendfreundin, ihrer höchst neugierigen Familie vor und bat sie mit der alten Herzlichkeit, sich's bequem zu machen. Während Luise auf den besprochenen Wink eilte, für die Bewirtung zu sorgen, und Gustav, der noch im Schlafrock war, sich durch eine Hintertür entfernt hatte, hörte sie an, was die arme Freundin für gut fand ihr selbst von ihrer Geschichte zu erzählen.

Mit Schreck und tiefem Mitleid erfuhr sie am Ende ihrer traurigen Erlebnisse, daß Elise nun heimatlos als Schauspielerin und Deklamatorin im Lande herumziehe und daß sie beabsichtige, auch hier im Orte ein Deklamatorium zu geben.

Nun hatte zwar das Dörtchen neben ihrem gesetzten Hausfrauensinn [131] noch ein warmes und offenes Herz für alles wirklich Schöne, was Kunst oder Natur bot; aber – ein Deklamatorium in einer Wirtsstube zu geben, das kam ihr doch als eine tiefe Herabwürdigung vor für eine Frau ihres Alters, für ihre ehemalige Herzensfreundin. Nur ihre Gutmütigkeit hielt sie ab, ihr den Plan auszureden, und es kostete sie große Überwindung, zu versprechen, daß sie mit ihrer Familie teilnehmen wolle, was Elise doch sicher erwartete.

Während Elise lang und breit ihren traurigen Lebenslauf entwickelte, an dem natürlich – laut ihrer Darstellung – nur ihr ungewöhnlich schweres Schicksal die Schuld trug, sah sie mit heimlicher Wehmut sich um in der traulichen, freundlichen Heimat, die ihr Dörtchen sich gegründet hatte, deren ganzer Reichtum sich freilich erst allmählicher Beobachtung enthüllte. Dieser solide bürgerliche Wohlstand, der sich auch in den kleinsten Dingen kundgab; diese anspruchslose, genügsame Einfachheit und vernünftige Sparsamkeit im Innern und diese herzliche, zwanglose Freigebigkeit nach außen; die Liebe und Achtung des Gatten, die sich ohne Worte doch so deutlich aussprach; der frischblühende Kreis der Kinder, die, alle glücklich begabt an Geist und Körper, mit der ehrfurchtsvollsten Liebe auf die Mutter sahen – hier war alles an seiner rechten Stelle, nichts Gezwungenes noch Geziertes; keine starre ängstliche Ordnung, sondern eine fröhlich belebte. Wie mochte es Elisen sein, wenn sie in ihr verödetes Herz, auf ihr zweckloses Dasein blickte?

Die deklamatorische Abendunterhaltung fand statt. Elise trat im roten Samtkleid und silbergestickten Federbarett auf. Bei all den feierlichen wie bei den scherzhaften Gedichten, die sie vortrug, hätte Dörtchen nur bitterlich um sie weinen mögen. Die arme Elise dauerte sie viel zu sehr, als daß sie sich noch um sie geschämt hätte; doch war sie froh, als sie wieder daheim mit ihr war. Sie leuchtete Elisen in ihr Zimmer und blieb dort noch eine Weile bei ihr, da das arme Geschöpf lange nicht zur Ruhe kommen konnte. Sie standen beisammen am Fenster und sahen schweigend in die sternhelle Nacht; drüben auf der Höhe ließen Knaben noch vom Herbst übrig gebliebenes Feuerwerk [132] los; man sah eine Rakete aufsteigen und erlöschen. Mit schmerzlichem Zucken wandte Elise sich ab und sprach leise: »Du hast das beste Teil erwählt!«

Dörtchen bat Elise am andern Tage recht herzlich, auf längere Zeit bei ihr zu verweilen; sie hätte ihr so gern etwas Gutes getan, wenn sie gleich heimlich fürchtete, ihr Mann werde wenig Freude haben an dem poetischen Gaste, dessen gekünsteltes, gesteigertes Wesen ihm so gar zuwider war. Aber Elise selbst schien es fortzutreiben von diesem gastlichen Dach, aus dieser Heimat der Liebe und des Friedens, voll kräftigen, gesunden Lebens. Sie reiste ab nach einigen Tagen, nachdem Dörtchen in aller Stille den Komödienstaat in ihrem leichten Koffer mit einem Vorrat guten Weißzeugs vermehrt hatte. Und so schieden die Freundinnen auf Nimmerwiedersehen.


Auf dem Kirchhof des Landstädtchens Marbach ist Dörtchens Grab. Auf ihrem Leichenstein, und diesmal spricht ein Grabstein Wahrheit, steht, daß sie starb »als das Kleinod ihres Gatten, als der Schutzengel ihrer Kinder, als der Trost der Armen, als das rechte Bild eines guten Weibes mit frommem, demütigem Herzen und rastlos tätiger Hand«. Sie lebt noch im Andenken der Ihrigen, ein teures Vorbild für die nachwachsenden Geschlechter.

In Frankfurt am Main, in einer Ecke des alten Kirchhofs ist Elisens unbeweintes Grab, verlassen und vergessen. Sie hat in jener Stadt ihre letzten Lebenstage kümmerlich gefristet durch den Erwerb, den ein mitleidiger Buchhändler ihr durch kleine Aufträge zuwandte. Wo man ihrer noch gedenkt, nennt man sie den bösen Engel ihres Gatten, dessen letzte Lebenstage sie vergiftet habe. Und doch war ihr Herz nicht schlimm, war ihr Wille einst gut gewesen. Aber die fromme Demut hatte ihr gefehlt, die Treue im kleinen, der ergebene Sinn, der nichts will, als recht und mit Freudigkeit die Bahn gehen, die der Herr ihm vorgezeichnet hat.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Wildermuth, Ottilie. 6. Das Dörtchen von Rebenbach. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A7AC-D