[93] Entzauberung

Dort drüben liegt sie/ riesenbreit erstreckt
Und vielgezackt zum Wolkengrau gereckt:
Die steinern fahle Stadt/ von hunderttausend
Tagwerken murrend und erbrausend.
Ein Dunst umhüllt die Dächer, rußig, bleiern:
Der Schlote Ausgeburt/ die noch nicht feiern.
Und doch schon murmeln von der Vesperstunde
Die düstern Türme mit dem Glockenmunde.
Wie dort der Häuserwall, der Vorstadt-Rumpf,
Aus fünfgezeilten Fenstern stumpf
Herüberstarrt zum braunen Ackergrund,
Wo, schmutzigrot die Mauern,
Zwei qualmende Fabriken kauern.
Horch, die Maschine heult das Vesperzeichen.
Da rinnt aus dem Fabrikentor
Ein langer Zug von Arbeitsvolk
Den Ackerweg dahin, zur Stadt.
Und sieh, die Häuserstirnen rötet matt
Der Abendwolken Widerschein.
Auf einmal quillt der Feuerball herein
Aus einem Wolkenriß und überflutet
Die Landschaft, daß sie golden glutet.
[94]
O Zaubertat! Die Stadt mit ihrem Dunst
Liegt nun verklärt, von Purpurduft umflossen:
Ein Hügel, drum in ungestümer Brunst,
Aus grauem Dorn, blutrote Rosen sprossen.
Und sieh nur, wie die Scheibenzeilen strahlen,
Mit rotem Blitz das Sonnenfeuer malen!
Wie alle Häuser, alle Fensteraugen,
Mit heißem Durst die Purpurquelle saugen
Und saugend immer lichter sich verklären/
Als ob sie fluchbeladne Schlösser wären,
Die für ein karges Weilchen von der bösen
Verwünschung sich erlösen.
Und sie betrachtend voller Staunen,
Hör ich die Häuser gramvoll raunen:
»Verwunschene Schlösser, verfluchte Mauern,
Ach wohl, das sind wir! Müssen ja trauern
In düstrer Öde jahraus jahrein,
Hilfloses Grauen im lahmen Gebein.
Durch Kerkerräume Gespenster poltern,
Viel arme Menschenseelen zu foltern,
Mit teuflischen Zangen, mit Dürsten und Fasten,
Mit knechtischen Ketten, unmenschlichen Lasten.
[95]
Auf faulem Stroh die Armut kauert,
Verzehrt von Fieber und frostdurchschauert;
Das Auge irrt,
Es ringen die Hände.
Doch fledermausig
Die Sorge schwirrt
Um unsere grausig
Verdammten Wände ...
Fluch und kein Ende!
Nur manchmal naht die Gnadenstunde,
Wo die purpurne Sonne mit küssendem Munde
Die Stirn uns rührt und an jenen gemahnt,
Den unsere Seele erschauernd ahnt:
Den Strahlenbräutigam wundervoll,
Den starken Helden, der kommen soll,
Aus gespenstischer Not, aus Nacht und Ketten
Auf ewig uns zum Lichte zu retten.«
So klagten die Verfluchten. Und der Scheiben Rot
Ward düster und erstarb in matten Funken.
In Stumpfheit lag die Stadt zurückgesunken:
Ein Schlackenhaufen,
Schwarz/ und kalt/ und tot.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Wille, Bruno. Gedichte. Der heilige Hain. Der Menge Qual. Entzauberung. Entzauberung. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A88B-F